Hoffen auf die Krieger

Mindestens noch einmal drei Stunden Fahrt hat Sônia Magalhães vor sich. Dabei ist die Anthropologin gerade erst mit dem Flieger aus Belém, der Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Pará, in Altamira angekommen. Jetzt geht es mit dem Motorboot weiter zu einem Dorf des Indio-Stammes Juruna. Das Gebiet ist nur auf dem Wasser zu erreichen. Es liegt in der „großen Beuge“ des Flusses Xingu, jener Seitenarm des Amazonas, der zum Betrieb des Wasserkraftwerks „Belo Monte“ gestaut werden soll.  

Sônia Magalhães nennt den Xingu „Fluss der Indios“. Denn nirgends gebe es so viele geschützte Reservate brasilianischer Ureinwohner wie entlang dieses mächtigen Stromes, der im Bundesstaat Mato Grosso entspringt und nach knapp 2000 Kilometern in den Amazonas mündet. Drei der vier indigenen Sprachen werden allein entlang des Xingu gesprochen. Für die Ureinwohner ist er Quelle es Lebens – manchem Stamm ist der Fluss sogar heilig.

Auf dem Weg erzählt Ivo, der Fahrer des Motorbootes, dass es nur ihn und maximal noch zwei oder drei Kollegen gäbe, die zu dieser Jahreszeit zur großen Flussbeuge fahren würden. Denn der Xingu, der sich hier zu einer großen Schlaufe krümmt, ist zwar an vielen Stellen doppelt so breit wie etwa der Rhein, aber auch sehr flach. Gerade jetzt in der Trockenzeit. Sandbänke, natürliche Kanäle und Stromschnellen erschweren die Navigation. Kleine Inseln, Büsche und Felsbrocken ragen aus dem Wasser. Manche Steine sind aber auch unsichtbar knapp unter der Wasseroberfläche verborgen.

Bootsführer Ivo umsteuert Sandbänke und Felsen im breiten aber flachen Xingu

Plötzlich knarrt es laut. Auch Ivo, der sein Leben lang den Xingu befährt, kann sich nicht jeden Fels merken und bleibt an einem hängen. Erst am Tag zuvor war ein Boot gekentert. Mehrere Menschen wurden verletzt. Diesmal geht es glimpflicher aus. Die Schraube des Bootsmotors hat sich verzogen. Nach einer halben Stunde kann Ivo die Fahrt mit seinem Gast Sônia Magalhães fortsetzen.

Mit Verspätung erreicht das Boot das Dorf Paquiçamba. Begrüßt werden die Besucher von einem der Anführer, Ozima Juruna. Das Dorf gebe es seit zwölf Jahren, erzählt er. Damals hätten sich die einzelnen Juruna-Familien dieses Gebietes zusammengeschlossen. Die Ortsführung geht entlang einfacher Holzhütten, bedeckt mit getrockneten Palmenwedeln. Gegessen wird, was das Feld, der Wald und der Fluss hergeben: Reis, Bananen und Maniok – dazu Schwein, Tapir und Fisch. Allerdings sind die 64 Bewohner keineswegs von der Außenwelt abgeschnitten. Sie haben ein Funkgerät, ein paar Glühbirnen und Fernseher mit riesigen Satellitenschüsseln. Der Strom dafür kommt aus Solarzellen.

Die anderen Anführer warten schon. In Paquiçamba treffen sich in diesen Tagen Repräsentanten verschiedener Dörfer und Stämme, um über die Zukunft zu beraten. Denn vor wenigen Wochen hatte die brasilianische Umweltbehörde den Bau des Mega-Staudamms genehmigt. Sônia Magalhães soll erklären, was genau passieren wird und welche Auswirkungen das haben könnte. Die Professorin ist Initiatorin einer Studie von 40 Wissenschaftlern, die sich kritisch mit den Planungen auseinandergesetzt. Denn laut Regierung, die hinter dem Baukonsortium des Staudamm-Projektes steht, seien die Indios nicht direkt vom Bau und dessen Folgen betroffen. Das Fazit von Sônia Magalhães nach 230-Seiten Studie: „Das ist für mich absoluter Blödsinn. Die Gesellschaftsform, in der die Indios heute leben, wird sich total verändern. Und das in einer sehr kurzen Zeit und auf sehr brutale Art“, sagt die Anthropologin.

„Wir spüren die Auswirkungen der Bauarbeiten schon jetzt“, erzählt Fernando Juruna, einer der Führer des Dorfes „Boa Vista“, das an der Transmazônica-Straße liegt. „Schon heute leiden wir unter der Invasion der Menschen, der Fluktuation der Fahrzeuge, die Abgase ausstoßen und Krach machen. Und es ist gerade einen Monat her, dass fünf Kilometer von unserem Dorf ein Bordell für die Bauarbeiter eröffnet wurde. Wir Anführer sind sehr besorgt. Tag für Tag wird es schwerer, unsere Kultur zu leben.“

 

Anführer Fernando Juruna beklagt schon heute den negativen Einfluss des Mega-Projektes Belo Monte.

 

Die Hoffnung der anwesenden Indigenen heißt „Kayapó“. Der Stamm ist der kriegerischste unter den Ureinwohnern Brasiliens. Die Alten erzählen noch heute Geschichten von diesen gefürchteten Kriegern aus dem südlichen Bundesstaat Mato Grosso. Den Kayapó ist der Xingu heilig, deshalb waren sie immer gegen den Staudamm. Schon 1989 verhinderte eine Gruppe um legendäre Stammesführerin Tuíra Belo Monte. Symbolisch bedrohte die alte Frau den damaligen Chef der verantwortlichen Energiefirma mit einem Messer. Das Bild ging um die Welt. Die Anwesenheit des Rockstars Sting sorgte für zusätzliche Öffentlichkeit. Belo Monte wurde vorerst auf Eis gelegt.

Doch die Zeiten haben sich geändert. 2008 verletzten Kayapó einen Mitarbeiter des Energieriesen „Eletronorte“ beim Protest gegen den Staudamm schwer mit einer Machete am Arm. Die öffentliche Unterstützung schwand. 2009 kam es zudem zum Streit zwischen den Kayapó und den Xikrin. Die Xikrin sind eine abgespaltene Unterart der Kayapó in der Nähe von Altamira, aber nicht weniger leidenschaftlich. Sie sollen neidisch gewesen sein auf Größe, Einfluss und Vermögen der Verwandten aus dem anderen Bundesstaat. Die Xikrin drohten mit Krieg, sollten die Kayapó nicht aus Pará abziehen und sie sprachen sich demonstrativ für den Bau des Staudamms aus. Daraufhin gingen die Kayapó und kehrten seither nicht mehr zurück.

„Wenn die Kayapó kommen“, heißt es bei der Versammlung im Juruna-Dorf Paquiçamba immer wieder, „dann haben wir eine Chance“. Am Ende sind sich die Repräsentanten einig: In einem Brief bitten sie die Verwandten um Unterstützung und heißen sie in der Großen Beuge des Xingu willkommen. Ob der Brief die Kayapó umstimmen kann, ist ungewiss. Auch ob Belo Monte überhaupt noch zu stoppen ist, ist völlig unklar. Politik und Wirtschaft scheinen entschlossen, den Staudamm zu bauen. Die Arbeiten haben begonnen. Schwere Maschinen werden gerade in die Region transportiert. „Ich habe aber noch Hoffnung“, sagt Sônia Magalhães. „Kein Prozess ist unabänderlich.“

 

Die Körperbemalung der Juruna ist Teil der Identität.

Zum Abschluss des Treffens wird getanzt und gesungen. Dazu tragen die Juruna die dunkle Farbe aus den Früchten des Jenipapo-Baumes auf ihren Körper auf. Die Muster aus Linien und Wellen symbolisieren die Elemente Erde und Wasser. Gemeint ist jenes Wasser des Xingu. Nach den Planungen würde der mächtige Fluss in der 100-Kilometer-langen Beuge aber zu einem Rinnsal. „Erde und Wasser sind unser Leben“, sagt Ozima Juruna, der die vier bekannten Muster noch zu zeichnen vermag. Früher, erzählt er, seien es viel mehr Ornamente gewesen. Es könne sich nur niemand mehr erinnern. „Wenn wir in die Stadt ziehen müssen“, sagt er weiter, „werden wir auch diese Letzten noch vergessen.“

Bootsführer Ivo stöhnt. Der Wasserstand ist durch die Trockenheit der letzten Tage noch weiter gesungen. Vier Stunden lang manövriert er das Motorboot im Zickzack zurück nach Altamira.