Das Erbe der Chicago Boys

Mit seinem Rucksack und dem Jeans-Outfit fällt Diego Vela kaum auf zwischen den Jungs, die sich vor dem Instituto Nacional versammelt haben – ihrer Schule in Santiago, die sie seit dem Vorabend besetzt halten. Doch die Fernsehleute erkennen Vela sofort und richten ihre Kameras auf den jungen Mann. Vela (25) ist Vorsitzender der Studentenvereinigung der Universidad Católica und damit eines der aktuellen Gesichter der chilenischen Studentenbewegung. Er ist gekommen, um seine Solidarität mit den Schülern auszudrücken. Gemeinsam fordern sie einen fairen Zugang zu Bildung, mehr Qualität von Lehre und Infrastruktur, die Abkopplung des Systems von wirtschaftlichen Interessen. Zu verbessern gibt es vieles im chilenischen Bildungswesen, einem der teuersten und ungerechtesten der Welt.

Vela ist auf dem Sprung, wie eigentlich immer seit seinem Amtsantritt zu Beginn des Jahres. Ein kurzes Interview mit dem Fernsehteam, ein paar Worte mit den Schülern, dann eilt er weiter – auf dem Campus seiner Uni ganz im Süden der Stadt erwartet ihn eine Podiumsdiskussion. An der Alameda, Santiagos lärmender Hauptverkehrsstraße, hechtet Vela in den Bus, am Ohr das Handy, das dieser Tage im Fünf-Minuten-Takt klingelt. Meistens ist die Pressefrau der Studentenvereinigung am Telefon, die weitere Termine durchgibt, oder ein Journalist, der eine Reaktion auf die Rede zur Lage der Nation von Staatspräsident Piñera haben will. „Piñera hat uns einmal mehr den Rücken zugekehrt“, sagt Vela. „Er versteht Bildung als Geschäft und betreibt eine Politik der Segregation.“ Gemeinsam mit den Vertretern der anderen großen Universitäten in Chile ruft Vela dazu auf, die Proteste zu verstärken.

Was die jungen Leute antreibt, ist nicht in erster Linie die Unzufriedenheit mit der aktuellen Politik, sondern mit althergebrachten Strukturen. In Velas Fall ist es sogar eine Art persönliches Erbe: Als Wirtschaftsstudent der Universidad Católica gehört er genau der Fakultät an, die einst die „Chicago Boys“ hervorbrachte, jene Gruppe junger chilenischer Ökonomen, die in den 1950ern und 60er Jahren in den USA studierten und zu Anhängern von Milton Friedmans Theorien des freien Marktes wurden. Unter Pinochet durften sie Chile gewissermaßen zu einem Laboratorium des Neoliberalismus machen. Die Folgen der weitreichenden Privatisierungspolitik sind bis heute spürbar – „nicht nur im Bildungssystem, sondern in vielen Bereichen“, sagt Vela.

An der Haltestelle vor seiner Wohnung im Herzen Santiagos springt der junge Mann aus dem Bus – „nur schnell meine Sportsachen holen“. Sein Studium muss in diesem Jahr ruhen, genau wie so ziemlich alle privaten Aktivitäten, aber auf den Sport mag er nicht verzichten. „Sonst würde ich verrückt werden.“ Mit der Trainingstasche geht es in die Metro, noch eine knappe Stunde bis zum Beginn der Debatte, an der Vela teilnehmen soll. In der Runde werden auch Vertreter von Gewerkschaften und anderer Gruppen sitzen. „Laut Umfragen unterstützen 80 Prozent der Chilenen die Studentenbewegung.“ Deren Forderungen allerdings sind seit dem Höhepunkt der Demonstrationen im Jahr 2011, als Hunderttausende auf die Straße gingen, weitgehend unerfüllt geblieben. Ist es nicht ermüdend, immer wieder die Protestflagge hochzuhalten, ohne konkrete Erfolge zu sehen? „Nein. Gerade 2011 war ein fundamental wichtiges Jahr in der Geschichte dieses Landes. Wir haben es geschafft, die Leute aufzuwecken. Das zählt viel“, sagt Vela, während er über den sonnigen Campus läuft, vorbei an seinen Kommilitonen, von denen viele grüßen, vorbei an der mit bunter Kreide beschriebenen Wand, die Studenten aufgestellt haben, mit Bitte um Beiträge: „Bevor ich sterbe, will ich…“

Was will Diego Vela? „Erstmal Ruhe“, sagt er und lacht. Bei seinen Eltern daheim in Valparaíso steht ein Klavier, vielleicht wird er sich damit eine Weile beschäftigen, wenn sein Amtsjahr vorbei ist. Er will sein Studium beenden und reisen, vor allem nach Asien und Nordafrika. Und Chile – wird er sich hier weiter einbringen? Die Frage, ob man das System von innen verändern kann oder weiter auf den Druck der Straße setzen soll, teilt die Studentenbewegung. Camila Vallejo, weltweit bekannt gewordene Anführerin der Proteste von 2011, ist in die Politik gegangen und tritt bei den nächsten Kongresswahlen für die Kommunistische Partei an. Giorgio Jackson, einer von Diego Velas Vorgängern an der Universidad Católica, kandidiert als Unabhängiger. Andere halten das für den falschen Weg, sie haben das Vertrauen ins politische System und dessen Vertreter verloren. Auch die ehemalige Präsidentin Michelle Bachelet, die demnächst Amtsträger Piñera ablösen will und für den Fall eines Wahlsiegs eine umfassende Bildungsreform angekündigt hat, musste sich bei öffentlichen Auftritten zuletzt wüste Beschimpfungen anhören.

Vela zögert bei der Frage nach der Politik. Früher habe er Freiwilligenarbeit in den Armenvierteln außerhalb Santiagos gemacht, sein Engagement sei eher sozial als politisch geprägt. Diesen Ansatz möchte er sich möglichst bewahren, sagt der Studentenführer, als er in der Mensa den Rucksack schultert und sich verabschiedet. Vor der Podiumsdiskussion war sogar noch Zeit für ein schnelles Mittagessen. Ein guter Tag.