Tänzer unser im Himmel

Lasst uns beten.

Das letzte Mal, dass ich in der Kirche meiner Kindheit war, muss mehr als 15 Jahre her sein. Es ist eine kleine evangelische Kapelle in dem Vorort von Hildesheim, wo ich aufgewachsen bin. Die Holzbänke waren hart. Und der Pfarrer machte aus Anlass des Weihnachtsgottesdienstes irgendeinen Witz, dass das heilige Gebäude schon lange nicht mehr so gut gefüllt gewesen sei.

Tina, die Frau meines Vermieters hier in Monrovia, hat mich am Sonntag mit in ihre Kirchengemeinde genommen. Das Gebäude ist etwa so groß wie die Kapelle meiner Kindheit, statt Holzbänken stehen dort Gartenstühle aus Plastik, und an den Wänden sind seitlich kleine Ventilatoren montiert. Wir sind ein bisschen zu spät, aber zum Glück finden wir noch zwei letzte, freie Plätze – wenn auch ganz hinten.

Ich bin unsicher, ob mir die kommenden zwei, zweieinhalb Stunden gefallen werden. Ich war in der Grundschule sehr religiös, vielleicht, weil ich mich als kleines Kind gern in dem großen Gott wiederfinden wollte. Als Jugendlicher wollte ich mich dann nicht mehr in irgendwas anderem wiederfinden, sondern die Welt verstehen und verändern. Ich las Marx und mehr. Ich brach mit der Religion.

Doch das soll jetzt egal sein. Es geht nun erst einmal um den Mann, der in einem braunen Umhang mit silberfarben aufgestickten Rechtecken erst vorn steht und dann durch die Kirchenreihen geht. Dass seine Kirche nicht unbedingt primär für die Arme Bevölkerung ist, merkt man an dem Bild, das er in den Mittelpunkt seiner Predigt stellt. „Ihr kennt das, ihr steht am Flughafen von New York und ihr wollt zurück nach Monrovia – und ihr habt Übergepäck. Das wird richtig teuer.“

Lebt ohne Übergepäck, konzentriert Euch auf das Wesentliche, auf die Menschen, die wichtig für Euch sind, auf die Aufgaben, für die Ihr wirklich gebraucht werdet! Das ist die Botschaft des Tages. Simpel, aber nicht unbedingt verkehrt. Und auch wenn ich alles andere sicher bin, inwieweit sie sich die Sache mit dem Übergepäck in den von ihm in großer Zahl zitierten Bibelstellen wiederfindet, der Mann weiß seinen Text wirklich exzellent vorzutragen. Wenn er redet, ist das so, als würde er Trommeln schlagen: eingängiger Grundrhythmus, ergänzt um Variationen.

Dann die richtige Musik. Auch wenn das hier, wie Tina mir versichert hat, tatsächlich eher ein predigt-orientierter Gottesdienst ist, gehen die Menschen zu den vom Keyboard begleiteten Lobpreisungen ab, wie ich es noch nie gesehen hab. Das Mädchen mit dem Gipsbein, die nur wenige Meter von mir entfernt sitzt, bewegt ihren Oberkörper, auf einem Bein balancierend, mehr als viele, die ich kenne, wenn sie in der Disco voll unter Alkohol und Wochenendhormonen stehen.

Es ist Spaß, es ist Spiel, es ist Tanzen – und ein gutes Grundgefühl. Ich komme mir noch nicht mal besonders bescheuert vor, als der Prediger fragt, wer zum ersten Mal in der Kirche sei – und darum bittet aufzustehen und zu sagen, was man an diesem Tag gelernt hat. Ich erkläre also, heimischer Akzent inklusive: „Ich bin Tobias aus Deutschland. Und ich habe gelernt, ich sollte nicht zu viel Übergepäck mit zurück nach Hause nehmen. Oder sonst irgendwohin.“ Irgendwie fühlt es sich okay an.

Natürlich ändert dieser Gottesdienst nichts für mich. Ich bin nach der rebellischen Jugendphase der Totalablehnung für mich vor langer Zeit zum Ergebnis gekommen, dass ich nicht weiß, ob es einen Gott gibt. Vor allem aber bin ich fest überzeugt, dass Gott – sollte er ein gradliniger, cooler Typ sein – es nicht wichtig findet, ob man ihn preist. Sondern wie man sich im Leben verhält. Und sollte es anders sein, okay, dann fahre ich gern mit ein paar coolen Typen zur Hölle.

Und doch: Zu sehen, wie konzentriert Tina für mich betet, als wir uns an den Händen halten, sich von der Musik tragen zu lassen und die herzliche Umarmung des Predigers nach dem Gottesdienst zu spüren, der sich über den Gast aus Deutschland freut – all das ist faszinierend schön. Ich bin ohne das Übergepäck des Glaubens oder allzu großer Erwartungen in diese Kirche gekommen. Und jetzt freue ich mich für die Menschen, die in ihr aufgehen.

Ich selber fühle mich, als stünde ich in warmen Wasser: Es ist nicht in mir, aber es berührt mich angenehm.