Reise nach Shabunda – Teil I

Zurück in Gisenyi, draußen gießt es in Strömen, der richtige Moment, um ein paar Eindrücke dieser etwas abenteuerlichen Reise in den Ostkongo zusammenzufassen. Hätte mir vorher jemand erzählt, worauf ich mich da einlasse, ich weiß nicht, ob ich diese Reise tatsächlich gewagt hätte. Aber wenn man erstmal unterwegs ist, gibt es kein Zurück mehr, und dann lernt man, die Dinge eben hinzunehmen und versucht, das Beste daraus zu machen. Lassen wir die üblichen Klischees vom Herz der Finsternis beiseite. Es war keineswegs finster, sondern im Gegenteil hell, oftmals fröhlich, chaotisch, nie passierte das, was man gerade erwartete. Aber irgendwas passierte immer.
Zur besseren Orientierung ein paar Informationen vorab. Shabunda liegt in Süd-Kivu, es ist ein „territoire“, vergleichbar mit einem mittleren Bundesland in Deutschland, etwa in der Größe von Ruanda (ca. 25.000 km²), mit der gleichnamigen Hauptstadt, umrahmt vom Ulindi, einem der zahlreichen Zuflüsse des Kongo. Rundum gibt es über hunderte, ja sogar tausende von Kilometern nur Regenwald, fast keine Pisten; die Strassen, die es in den 1950er Jahren mal gab, hat sich der Busch längst zurückerobert. Flussverkehr ebenfalls Fehlanzeige, lediglich ein paar Pirogen transportieren die Leute ans andere Ufer, wo sie ihre Felder bestellen oder nach Mineralien graben. Obwohl das tropische Klima und der fruchtbare Boden mehrere Ernten pro Jahr zuließen und es Gold, Zinnerz, Coltan, Diamanten und andere Edelmetalle gibt, ist die Bevölkerung bitterarm und lebt weit jenseits des Existenzminimums. Denn in Shabunda herrschte bis vor kurzem ein grausamer Krieg. Die Stadt selber ist seit etwa zwei Jahren ruhig, aber im nördlich gelegenen Kahiezu Biéga Park ist es noch immer gefährlich, dorthin haben sich die Reste der Ex-FAR/Interahamwe Rebellen zurückgezogen. Laut Angaben des MONUC-Kommandanten vor Ort, sollen es nur noch wenige Dutzend sein, die dort mit ihren Familien im Busch leben, aber so genau weiß das niemand.

Wer mehr zur aktuellen Situation im Ostkongo lesen möchte, dem empfehle ich das Buch von Dominic Johnson: „Kongo Kriege, Korruption und die Kunst des Überlebens“.

Nach tagelangen Verzögerungen und etlichen Besuchen an der Grenze wegen der Visabeschaffung begann unsere Reise an einem sonnigen Donnerstagmorgen mit der Überquerung der Grenze von Gisenyi nach Goma. Wir sind zu dritt: mein Freund Ralph, krisenfest und unerschütterlicher Developmentworker, der seit über 2 Jahren ein Projekt der Handwerkskammer Rheinhessen in Gisenyi leitet, der 73jährige belgische Père Joseph von der Paroisse Kivumu, der seit mehr als 50 Jahren in Ruanda lebt und mit knapper Not dem Genozid 1994 entkam, und Madame Üt, wie ich hier meist genannt werde. Ausgestattet mit Visa und „Ordre de mission“ dauern die Grenzformalitäten nur zwei Stunden und weil das Rekordzeit ist, kostet es ein kleines Extra. Ein Kontaktmann in Goma hat sich um die Schiffstickets nach Bukavu gekümmert, das Hotel haben wir am Vortag telefonisch reserviert und die Flüge am nächsten Morgen nach Shabunda hat ein freundlicher Pasteur für uns nicht nur bestellt, sondern sogar auch das Geld dafür ausgelegt. Reisen im Kongo scheint Vertrauenssache zu sein. Man bekommt von irgendjemand, der jemanden kennt, der einen anderen kennt eine Telefonnummer, verabredet Ort und Zeit und telefoniert sich dann, wenn man tatsächlich angekommen ist, zusammen. Ich frage mich, wie das wohl funktioniert hat, als es noch keine Mobiltelefone gab. Immerhin, das Schiff hat nur eine Stunde Verspätung und braust mit ordentlicher Geschwindigkeit in zweieinhalb Stunden den Kivusee südwärts bis Bukavu. Unterwegs überholen wir rostüberzogene Kähne, Fischer in Pirogen und alte Schlepper aus denen schwarzer Rauch quillt. Ähnlich wie schon am Hafen in Goma, den ich aus Sicherheitsgründen nicht fotografiert habe, dümpeln auch am Pier von Bukavu mehr Schiffswracks als reisetaugliche Transportmittel im trüben Wasser. Die Taxifahrer stürzen sich auf die ankommenden Passagiere, die Mzungus, also wir Weißnasen, sind zuerst dran, denn die versprechen die fetteste Beute. Der Kongo ist teuer, unter 10 Dollar ist auch eine kurze Taxifahrt vom Hafen bis in die Stadt nicht zu bekommen. Im Hotel weiß niemand mehr etwas von einer Reservierung und der Rezeptionist bedauert, es sei leider nur noch ein Zimmer frei. Das sei „première categorie“ und koste 125 Dollar. Da logiere sonst der Botschafter. Père Joseph will sowieso lieber bei seinen Patres in der Mission übernachten und wir machen Anstalten ihm zu folgen. Das veranlasst den geschäftstüchtigen Manager zu einem raschen kalkulatorischen Überschlag mit entsprechendem Preisrabatt und wir haben die Ehre zu schlafen wie bei Botschafters. Imposant mit großem Balkon nebst Hollywoodschaukel und herrlichem Blick auf den Kivusee.

Taxifahrer Alex, der uns am Vortag vom Hafen in die Stadt kutschiert hat, freut sich wie Bolle dass er uns nun auch noch zum 30 km entfernten Flughafen bringen kann und ist verabredungsgemäß morgens um 6.30 Uhr zur Stelle. Wir sollen auf keinen Fall zu spät kommen, hatte man uns eingeimpft, das Flugzeug warte nicht. Wer dann allerdings wartet, sind wir. Weder der Pilot noch seine Equipe sind aufzutreiben, noch hat schon jemand mit laden begonnen. Wir bekommen 3 Plastikstühle in den Schatten der Überreste einer alten Transportmaschine gestellt, auf der einige Halbwüchsige herumlungern und interessiert unser Gepäck beobachten. Der Fotoapparat bleibt in der Tasche, hier wimmelt es von schwerbewaffneten Soldaten, deren Gesichter so unfreundlich wie ihre Sonnenbrillen dunkel sind. Genug Zeit sich umzusehen. Der Flugplatz ist im Grunde genommen eine Airbase der MONUC. Überall Natodraht, weiße Helicopter mit UN-Aufschrift starten und landen, aus den ankommenden MONUC-Flugzeugen marschieren Soldaten in Reih und Glied über das Rollfeld, Lastwagen mit aufmontierten MG-Geschützen werden von Soldaten aus Uruguay, Pakistan, Indien oder Südafrika zwischen den wartenden Flugzeugen hin und her bewegt, der Tower ist mit Sandsäcken umgeben und wird von ebenfalls bewaffneten Soldaten kontrolliert. Zivile Passagiere außer den drei Mzungus auf den Plastikstühlen, auf denen passenderweise eingraviert steht „Que Dieu vous benisse“ sind nirgends zu sehen. Außer ein paar kleinen zweimotorigen Antonow-Frachtmaschinen – von denen keine jünger als dreißig Jahre ist – gibt es keinerlei reguläre Passagierflugzeuge.

Die nächste Hürde heißt DGM (Direction Générale de Migration) Dorthin ist einer der vielen Agenten mit unseren Pässen verschwunden und wir werden aufgefordert, uns dort zu präsentieren. Eine kleine Hütte, gut bewacht von Soldaten mit den unvermeidlichen MG’s lässig über die Schulter gehängt, drinnen ein finster dreinblickender Staatsdiener, der gründlich unsere Pässe und die „Ordre de mission“ studiert. Père Joseph hat natürlich keine und den Hinweis – frei nach Bluesbrothers – er sei im Auftrag des Herrn unterwegs, verkneife ich mir lieber. Monsieur „Chef de post“ scheint schlechter Laune zu sein und nimmt seine Verantwortung ernst. Also ohne „Ordre de mission“ kann der Pater nicht reisen. Keine Widerrede. Er müsse beweisen, dass er wirklich „Père“ wäre, da könne ja sonst jeder kommen, so gehe das nicht. So langsam wird der Ton schärfer und der Pater etwas kleinlaut. Schließlich kramt er sein Gebetbuch aus dem Koffer und überreicht es aufgeschlagen dem „Chef de post“, mit dem Hinweis, er möge sich doch das darinliegende Bildchen ansehen. Der nimmt das abgegriffene Brevier in die Hand und begutachtet durch seine dicke Brille stirnrunzelnd ein vergilbtes Foto auf dem ein junger schwarzer Priester und ein ebenfalls junger belgischer Pater, der eine entfernte Ähnlichkeit mit Père Joseph hat, im Ordensgewand abgelichtet sind. Auf der Rückseite stehen die Daten der Ordination (März 1958) und einige sicher segensreiche Sprüche, allerdings auf Kinyaruanda. Der „Chef de post“ ist nur mäßig beeindruckt. Da steht plötzlich ein ziemlich verschwitzter älterer Herr in kariertem Hemd mit Käppi und Rucksack in der Tür und gibt sich als Pater Paolo von der Mission in Shabunda zu erkennen. Er ist auf der Rückreise in genau die Paroisse in die wir auch wollen. Wir ziehen uns diskret zurück und überlassen den beiden Gottesmännern die weiteren Verhandlungen. Nach zehn Minuten kommen sie fröhlich angeschlendert. Soviel Beistand von oben hat den „Chef de post“ wohl doch überzeugt. Es war nicht mal ein Trinkgeld fällig, Pater Paolo hat ihm allerdings versprochen, ihm eine neue Brille zu besorgen, die wir dann auf dem Rückweg auch brav beim Chef abliefern. Wir danken Pater Paulo für seine Unterstützung, da er mit einer anderen Gesellschaft fliegt, werden wir ihn erst in Shabunda wiedersehen.

Immerhin kommt mittlerweile etwas Bewegung in die Reiseabfertigung, denn es wird ein rostiger Container geöffnet, der vollgestopft ist mit irgendwelchen Säcken, Plastikwannen und verschnürten Bündeln, auf denen in krakeligen Buchstaben etwas von Shabunda zu entziffern ist. Päckchen für Päckchen wird in der nächsten Stunde auf dem Kopf Richtung Richtung Frachtflugzeug geschleppt. Dort am Heck der Maschine herrscht zunehmend viel Getümmel und großes Geschrei, es wird gewogen, umsortiert, einige Stücke werden unter lautem Protest wieder aus dem Frachtraum geworfen. Eine selbstgebastelte Gitarre, auf der einer der Jungs am Container schon hingebungsvoll herumgeklimpert hat, verschwindet schließlich auch noch im Bauch der Antonov AN 28. Als ich mich schon beginne zu fragen, wann denn nun endlich das Passagierflugzeug für Shabunda landet, werden wir mit samt unserem Gepäck herangewunken. Ich finde den Gedanken, dass unsere Koffer in einem anderen Flugzeug reisen sollen, als wir, wenig erbaulich. Wir quetschen uns also durch das Gewühle von Menschen und Paketen, da wird eine rostige Trittleiter eingeklinkt und uns signalisiert, wir mögen bitte auch einsteigen. Ich bin so verdattert, dass ich meinem unerschrockenen Reisegefährten einfach hinterherklettere. Père Joseph folgt ohne besondere Regungen, als bestiege er die Abendmaschine nach Addis Abeba. Im Flugzeug kann man sich nur gebückt etwa drei Schritte nach vorne bewegen, wobei man über verstreutes Frachtgut klettern muss. Alles was man sieht, sind Gepäckstücke wüst durcheinander gewürfelt, bis zur Decke. Irgendwie quetsche ich mich zwischen zwei Säcke, vielleicht sind es Mais oder Bohnen, der Pater witzelt, dass sei immerhin noch besser als Nägel, dann reicht uns jemand ein etwa einjähriges Kind mit den Worten: „Ca c’est mon bébé“ und schon wird die Ladeklappe vom mitreisenden Steward zugeschmissen, der noch weniger Platz hat, als wir und sich unter die Decke kauert. Während wir noch versuchen, dem erschrocken dreinschauenden Baby einen halbwegs bequemen Platz zu verschaffen, wirft der Pilot die Maschine an. Es ist laut wie in der Hölle, alles vibriert und klappert, der Motor heult mehrmals auf, die Maschine setzt sich in Bewegung, wird schneller, dann wieder langsamer, dann wieder schneller, nochmals langsamer, es ruckt und stottert und dann gibt der Pilot Vollgas, der Pater bekreuzigt sich und die Maschine hebt ab. Ich klammere mich an den Säcken fest und habe einfach Angst wie selten in meinem bisherigen Leben, von dem ich in diesem Augenblick eine deutliche Ahnung seiner Endlichkeit empfinde. Der Pater verteilt Bonbons an das Baby und an mich, mein unerschrockener Freund grinst wie Indianer Jones, der Steward kramt an den Gepäckstücken herum, hangelt sich irgendwo seine Gitarre heraus und zupft an den Seiten. Tief unter mir beginnt der Regenwald. Ein dichter grüner Teppich soweit man das durch die schlammverspritzte kleine Luke sehen kann. Das Baby ist mittlerweile völlig ungerührt eingeschlafen, ein Zettel ist aus seiner Anzugjacke gefallen. Ich hebe ihn auf und falte ihn auseinander. Ungelogen, es ist seine „Ordre de mission“. Wir verstauen sie sorgfältig in seiner Anzugtasche und hoffen, dass er am anderen Ende der Reise samt seines Passierscheines von jemandem in Empfang genommen wird. Während ich bei jedem Luftloch noch um Fassung ringe, macht der Pater Fotos und genießt sichtlich die Reise der etwas anderen Art.

Nach etwa einer Stunde beginnt die Maschine zu sinken, ich hoffe zuversichtlich, dass es sich nicht um eine Notlandung mitten im Dschungel handelt, denn außer grün sieht man da unten nichts. Endlich tauchen mitten im Dschungel ein mäandernder brauner Fluss und so etwas wie ein paar Hütten auf. Landeanflug auf Shabunda. Die Antonov landet mit einem recht harten Ruck auf der Buschpiste und der Pilot schaltet auf Umkehrschub. In Ermangelung des Schildes „Fasten your seatbelts“ greife ich nach den Maissäcken. Ein Dankgebet ist fällig. Innerhalb von zwei Minuten ist es in der Maschine brüllend heiß. Zum Glück hält sich hier niemand mit „Thank you for travelling with Congo Com“ auf und die Ladeklappe wird rasch geöffnet. Der Stewart schnappt sich die Gitarre und klettert raus, die ersten Gepäckstücke werden rausgeschmissen, dann wird die Trittleiter eingeklemmt und wir reichen das Baby nach draußen. Ich habe es nicht wiedergesehen, offensichtlich war seine „Ordre de mission“ mustergültig.

Der Regen hat nachgelassen in Gisenyi, aber jetzt ist der Strom weg. Also demnächst mehr.