Die verschwundenen Migranten von San Luis de la Paz

Zwei gelbe Stofflaken verhängen den Eingang zu dem garagenähnlichen Anbau in einer sandigen Seitenstraße außerhalb des kleinen Ortes San Luis de la Paz. David Mora befestigt einen großen Bogen Papier an der Wand und unterstreicht ein paar Begriffe mit blauem Filzstift: „Suche“, „Gerechtigkeit“, „Anzeige“, „Schutz“. Um ihn herum sitzen neun Frauen und zwei Männer in einem Stuhlkreis – Junge und Alte. „Das wichtigste“, sagt David laut und nachdrücklich in die Runde, „ist, dass wir die Behörden dazu drängen, mit der Suche zu beginnen. Und wenn die Verantwortlichen ihre Arbeit nicht machen, dann sollen sie zurücktreten.“ Der Politologe von der Fundación Justicia y Estado de Derecho (Stiftung Gerechtigkeit und Rechtsstaat) gestikuliert dabei wild mit den Händen. Ein paar der Anwesenden nicken zustimmend. Andere schauen scheinbar teilnahmslos zu Boden. Seit fast vier Jahren treffen sie sich regelmäßig. Seit fast vier Jahren warten sie auf Antworten darauf, was mit ihren verschwundenen Söhnen, Brüdern und Ehemännern passiert ist.

Seit fast vier Jahren sucht Irma Cruz nach ihren beiden verschwundenen Brüdern.

Seit fast vier Jahren sucht Irma Cruz nach ihren beiden verschwundenen Brüdern.

Im März 2011 entscheiden sich zweiundzwanzig meist junge Männer aus San Luis de la Paz, gemeinsam in zwei Bussen nach Norden aufzubrechen. Die Familien bezahlen einen Coyoten, einen Mann aus der Nachbarschaft, der die Männer über die Grenze in die USA bringen soll. Dort wollen sie Arbeit finden. San Luis ist eine kleine Stadt, man lebt von der Landwirtschaft. Die Männer und ihre Familien kennen sich untereinander. „Mein Bruder Samuel war damals neunzehn Jahre alt“, sagt Carina Isabel Guzmán und zeigt mir ein Foto von einem Jungen auf ihrem Smartphone. „Er wollte ein besseres Leben haben, wie viele hier. Hier im Dorf gibt es keine Arbeit. Viele Häuser hier stehen leer, weil so viele auswandern.“ Die Busse mit den Männern kommen nie im Norden Mexikos an. Die Familien hören nie wieder etwas von ihren Angehörigen. „Das waren fast alles junge Leute, man könnte fast sagen eine Generation. Ich versuche stark zu sein, vor allem wegen meiner Mutter, aber die Suche ist schwierig und schmerzhaft“, sagt Carina. Die Familien wenden sich an die lokale Polizei und an die Bundesbehörden, fahren in die Landeshauptstadt. Was sie finden sind meist Desinteresse und Inkompetenz.

Die Fundación Justicia y Estado de Derecho unterstützt die Familien bei der Suche nach ihren verschwundenen Angehörigen.

Die Fundación Justicia y Estado de Derecho unterstützt die Familien bei der Suche nach ihren verschwundenen Angehörigen.

Unterstützung bekommen sie erst bei der Fundación Justicia y Estado de Derecho. Alle paar Wochen fahren David Mora oder seine Kolleginnen die dreihundert Kilometer von Mexiko Stadt nach San Luis de la Paz. Sie informieren die Familien der verschwundenen Migranten über die Entwicklungen bei den Ermittlungen und beraten gemeinsam mit ihnen über die Strategien gegenüber den Behörden. „Wir arbeiten vor allem mit den Familien von Migranten, die auf ihrem Weg in die USA verschwunden oder ermordet worden sind. Wir helfen ihnen bei der Suche nach ihren Angehörigen und unterstützen sie beim Umgang mit dem Justizsystem“, erklärt Ana Lorena Delgadillo, die Direktorin der Stiftung. Bislang aber sind Antworten von Seiten der Behörden ausgeblieben. „Einige Zeit, nachdem die Männer verschwunden waren,  holte die Bundesstaatsanwaltschaft die Familie des Coyoten nach Mexiko Stadt, um ihnen die angeblichen Überreste des Mannes zu übergeben. Wir wollten die Familie dabei begleiten, denn die hatte große Zweifel und auch Angst. Aber die Staatsanwaltschaft hat alles getan, um das zu verhindern. Die Behörden behaupteten, die Leichen seien alle verbrannt worden und man könne sie nur anhand ihrer Habseligkeiten identifizieren. Mit diesen Worten haben sie der Familie eine weiße Tennissocke übergeben und behauptet, es wäre die des Ehemannes, als gäbe es auf der Welt nur eine einzige Socke dieser Art. Das ist die Art von Behörden, mit denen wir es hier zu tun haben.“

"Die Behörden haben uns weder geholfen, noch zugehört."

„Die Behörden haben uns weder geholfen, noch zugehört.“

Das Vertrauen der Frauen in die staatlichen Ermittlungen ist zerstört, sagt Verónica Martínez, die immer noch darauf hofft, eines Tages zu erfahren, was mit ihrem Ehemann passiert ist: „Mein Mann wollte hier eigentlich nicht weg. Er hat immer gesagt ‚der Norden ist nichts für mich‘. Aber dann ist er doch gegangen, weil er hier einfach keine Arbeit gefunden hat. Ich vertraue den Behörden nicht. Wir waren bei so vielen staatlichen Stellen und nirgends hat man uns auch nur im geringsten geholfen oder wenigstens zugehört. Es gibt so viel Korruption von ganz unten bis ganz oben. Deshalb geht es auch seit vier Jahren nicht voran.“ Die Juristin Ana Lorena Delgadillo von der Fundación sieht neben den Hindernissen aber auch positive Entwicklungen: „Es hat sich etwas bewegt, es gibt mittlerweile zum Beispiel eine forensische Kommission, die sich gemeinsam mit den Familien um die Identifikation der Überreste kümmert. Aber den Behörden fehlt der Wille, richtig nach den Vermissten zu suchen. Und wenn, dann bearbeiten sie Einzelfälle und es gibt keine Koordination. Aber bei zehntausenden Fällen in den letzten Jahren hat das Verschwindenlassen System und dafür benötigen wir eine nationale Strategie.“ Auch Verónica Martínez will nach all den Jahren des Kampfes nicht aufgeben: „Ich werde weiterhin die Behörden nerven“, sagt sie und lächelt. „Wenn wir weiterhin Druck ausüben, hoffen wir, dass sie eines Tages ihre Arbeit machen, so wie es ihre Pflicht ist. Ich hoffe, dass ich irgendwann eine Antwort bekomme.“