Exkurs: Durch den Müll geführt. Sind Slum-Touren gut oder schlecht?

In den ersten Tagen meiner Zeit in Manila sehe ich ab und zu Menschen, die auf ihren nackten und dreckigen, oder nur mit Lumpen bedeckten Rücken riesige Tüten voll Müll durch die Gegend tragen. Häufig ist darin Plastik, aber auch Glas, Unrat wie Kabelreste, teilweise sogar Essen. Wohin schleppen diese armen Menschen den Müll und warum lesen sie ihn von der Straße auf?

Die Antwort kommt, als ich irgendwann im Hotel liege und durch das Fernsehprogramm zappe. Hinter den Kanälen des ABS-CBN-Imperiums, dem Marktführer, kommen die Kirchen-Kanäle. Quasi die volle Dröhnung Papst-Propaganda: Vorbeter, Gottesdienste, plötzlich eine aufwendig produzierte Dokumentation auf GodTV. Ein Amerikaner mit stilvoller Armbanduhr watet durch Berge von Müll, er berichtet von den armen Bewohnern Manilas, die den Müll irgendwo aufsammeln und im Slum für ein paar Pesos vorsortieren. Dann verkaufen sie ihr Müllgut an kleine Händler, die mit Recyclingunternehmen zusammenarbeiten. Achso, hier hin bringen die mysteriösen Sammler den Müll.

Eine Mülldeponie im Slum

Und was ist die Message des überfreundlich durch das Ghetto laufenden US-Christen? „Leute, ihr dürft niemals aufhören an Jesus zu glauben“, sagt er und schüttelt ein paar Hände von ungläubig dreinschauenden Männern. Sie verstehen ihn doch kaum, sie sprechen sicherlich kein gutes Englisch. „Danke, Bruder, Jesus schenkt dir ewiges Leben.“ Aber wofür soll ewiges Leben gut sein, wenn man doch schon in der Hölle lebt, denke ich mir.

Die Slums von Manila. Sie gehören zu den ältesten Städten der Metropolregion, häufig vorne im Hafengebiet. Insgesamt leben in Tondo, Aroma oder Baseco geschätzte 600.000 Menschen auf engstem Raum, und das sind nur die Hafen-Slums. Die Philippinischen Slums gehören zu den größten und am dicht besiedelsten weltweit. Nicht nur der aufgelesene Müll wird dort vorsortiert, die Stadt hatte sogar jahrelang ihre Mülldeponien mitten in die Slums verlagert. Der größte Müllberg – Smokey Mountain – mittlerweile geschlossen, war aber für viele Bewohner eine wichtige Einnahmequelle. In zynischer Selbstironie haben die Slum-Bewohner den Nachbarschaften sogar Namen gegeben, die an Müll erinnern: Happyland, abgeleitet vom Wort Hapilan – Mülldeponie.

Auf dem Weg in den Slum befinden sich immer wieder kleinere Slum-Gegenden. Squatter-Area genannt. Manila ist voll damit.

Verbergen sich in dem Müll nicht Geschichten, die erzählt werden müssen? Wie geht es den Menschen dort? Wie schaffen sie es zu überleben? Nachdem ich über die Slums las, hatte ich den Wunsch, dort mit den Menschen zu sprechen. Aber alleine soll ich dort nicht hin, wurde mir geraten. Ich stöbere durch Organisationen, die dort Hilfe leisten, und stoße dann auf Smokey Tours.

Eine geführte Besichtigung durch den Slum, eine Slum-Tour. Sofort entstehen bei mir Bilder im Kopf, von dekadenten weißen Sonnenhut-Trägern, die mit Selfie-Stange in der Hand durch den Müll stakseln. Damit bin ich nicht alleine. Kritiker sagen, derart inhuman lebende Menschen in einer Art sozialem Zoo zu besichtigen, sei voyeuristischer Poverty-Porn, ein Armuts-Porno. Aber: Hinter Smokey Tours steht eine Stiftung, die den Bewohnern Hilfsgüter zukommen lassen will und die nicht profitorientiert sei, sondern die den Gewinn in die Slum-Community re-investiere. Die 20 Euro gebe ich jetzt aus.

Tessie hat ein unübersehbares Shirt an: Smokey Tours. So steht sie am amerikanischen Fast-Food Besatzer mit dem gelben M in Downtown Manila, dem ausgemachten Treffpunkt. Wir müssen nicht auf andere Tour-Besucher warten – ich bin der einzige Gast heute. Das ist gut, weil so kann ich viele Fragen stellen. Und das ist schlecht, weil so weiß ich nicht, was für Menschen eine Slum Tour buchen. Im Schnellrestaurant sagt meine 60-jährige Slum-Reiseleiterin, die anderen Tour-Gäste seien an manchen Tagen Schulklassen aus Hong-Kong oder australische Backpackerinnen. Auch Deutsche unter den Besuchern.

Sie selbst lebt in Tondo, dem Stadtteil mit dem Smokey Mountain, und wegen Smokey Tours hat sie seit drei Jahren endlich wieder einen Job. Die Slum Tour habe früher durch Tondo geführt, aber jetzt sei es dort wegen Präsident Dutertes Drogenoffensive zu gefährlich. Jeden Tag komme die Polizei, immer träfe es die Ärmsten der Armen. Die heutige Slum Tour führt deswegen durch Baseco.

Smokey-Tours-Guide Tessie (rechts im Bild) mit zwei Slum Bewohnern in einer Hütte. Nicht alle Hütten sind so toll eingerichtet

Wir fahren mit dem Jeepney dorthin und irgendwann werden aus groben Backsteinruinen nur noch Bretterbuden. In Baseco angekommen laufen wir auf schmalem Grad zwischen Hafenwasser und den improvisierten Hütten. Tessie erzählt, wie das Gebiet während der Marcos-Diktatur in die Hände des Staates fiel, der seither versucht, einen Teil der über 50 Hektar mit 100.000 Bewohnern für kommerzielle Zwecke zu nutzen. Die Regierung habe die Bewohner für illegale Besetzer erklärt, die jeden Moment deportiert werden könnten. Es habe einige Brandstiftungen gegeben, um Bewohner zu vertreiben.

Zu meiner Beruhigung scheinen die Bewohner hier sehr froh über meinen Besuch, mehr als an anderen Orten, an denen ich war. Sie rufen „Hi Joe“ in der Annahme, ich sei ein amerikanischer Missionar oder so etwas, ich darf mit nach Hause, und dann wollen einige von ihnen Fotos machen. Das ist meine Gelegenheit, ebenfalls Fotos zu machen, denn eigentlich verbietet Smokey Tours Bildaufnahmen – und Tessie achtet auch darauf.

Nach ersten Fotos sehe ich einen Mann mit Holzlatten als Paddel an den Füßen in der Hafenkloake schwimmen. Er suche Muscheln, sagt Tessie. Eine Einnahmequelle für die Bewohner sei die Fischerei, dazu fahren sie mit Booten zur See, und wer keinen Motor habe, der schwimmt auf einen Autoreifen gelehnt hinaus auf See. Nur wenige der Bewohner hätten das Glück, auf Baustellen in Manilas Umgebung einen Job zu bekommen, manche fahren draußen Fahrrad-Riksha, verkaufen Hüte und Sonnenbrillen, oder prostituieren sich. Der Rest macht sein Geld irgendwie im Slum. Eben durch Müll sortieren. Die Spezialität von Baseco ist aber Knoblauch und Zwiebeln für ganz Asien schälen. Für Zwiebeln gibt es ein wenig Schmerzensgeld mehr wegen der brennenden Augen.

Diese angezapften Wasserleitungen versorgen ein paar Tausend Menschen. Das Leben im Slum ist eine einzige Improvisation aus tiefster Armut heraus

Teilweise wird sogar aus Müll Essen gemacht. Slumbewohner sammeln die Fleischreste von Fast Food Ketten ein, waschen und zermahlen diese, und bauen damit neue Gerichte – PagPag genannt. Für meinen Magen sei das nichts, sagt Tessie, ich habe PagPag-Verbot, und so traue ich mich heute an einen gefüllten Fisch und ein paar frittierte Hähnchen-Hoden heran.

Wir laufen weiter, vorbei an angezapten Wasserzählern, den Laufsteg am Pier begleitet ein Wirrwarr an Kabeln in drei Meter Höhe. Dort fließt der abgezapfte Strom entlang, brandgefährlich. Bewohner, die sehr lange hier leben, bekommen einen legalen Zähler von den Stromanbietern, das sei sicherer. Von einem legalen Zähler laufen dann wiederum halblegale Submeter, Zweitzähler ab. Der Strom wird immer teurer, je mehr die Bewohner untereinander damit handeln. Das sei ein Problem, vor allem das Internet könne sich hier kaum jemand leisten, auch wegen der Stromkosten. Wir halten an einem der improvisierten und stark frequentierten Internetcafés von Baseco.

Internetcafé im Slum. Fünf Minuten kosten einen Peso

Natürlich führt mich Tessie nur an den Dingen vorbei, die ich sehen soll. Einer Bücherei, die Smokey Tours in einem der Häuser eröffnet hat. Dem Smokey-Tours-Büro im Slum, in dem eine große Kiste voll mit Arzneien steht, die bei Bedarf an die Bewohner verteilt werden. Verteilt wurden zuletzt auch Badelatschen an die Kinder, erzählt Tessie, denn die Kinder hier laufen vielfach barfuß durch den Müll. Überall sehe ich wahninnig viele Kinder, teilweise nackt umherlaufend und dabei über das Grundschulalter hinaus. Die Bevölkerung der Philippinen ist in den vergangenen Jahren regelrecht explodiert.

Ein großes Problem im Slum ist die fehlende Abwasserversorgung. Überall gibt es große, schwarze Pfützen, die mit Holzlatten überbrückt werden, und die große Gefahrenherde in der Regenzeit werden. Bakterien und Dengue-Mücken vermehren sich hier rasant. Ansonsten halten die Bewohner ihre Umwelt sehr sauber, jenseits der Müllberge an den Küstenwegen. Überall wachsen kleine Blumen aus aufgeschnittenen Basketbällen, die als Töpfe dienen. Zum Schluss zeigt mir Tessie noch das Evakuierungszentrum. Denn die größte Lebensgefahr hier sind Wirbelstürme und Erdbeben, die diese armen Menschen immer wieder heimsuchen.

Die Kinder von Baseco sind arm dran. Es gibt nur eine Schule, sie haben Hunger und sind oft nackt. Und sie baden in der Kloake

Die Tour ist recht schnell vorbei, knapp zwei Stunden hat sie gedauert. Und vielleicht war es auch besser so, dass mich Tessie eben nicht in die Tiefen des Slums geführt hat – das wäre dann doch Armuts-Porno gewesen. Ich verlasse den Slum und später Tessie mit gemischten Gefühlen. Es fühlt sich falsch an, durch einen Slum geführt zu werden, einerseits. Nach wie vor finde ich es fraglich, dass sich mit diesen Touren die Menschen hinter Tessie ein Gehalt auszahlen lassen. Hätte ich mehr Zeit, würde ich der Stiftung hinter Smokey Tours Fragen stellen: Wie groß war der Umsatz jeweils in den vergangenen drei Jahren? Und wie viel davon hat die Stiftung genau in welche Projekte gesteckt? Dann mal schauen, ob sie antworten. Nochmal alleine hinfahren und die Bewohner fragen, wie sie Smokey Tours wirklich finden.

Gleichzeitig habe ich Dinge erfahren, die ich mir nicht anders hätte erschließen können. Wie sonst soll ein interessierter Mensch, der vielleicht spenden will, der berichten möchte, oder Arbeit in den Slum bringen kann, erste Kontakte zu den Menschen dort knüpfen und sicher durch den Slum kommen? Fazit: Ich weiß nicht, ob Slum Tours gut oder schlecht sind.