Nur ein halber Schokoriegel

In Nerima, einem Stadtbezirk im Nordwesten Tokios, besuche ich IKAN, das Iruka & Kujira (Delfin & Wal) Action Network. Anfangs hatte ich noch eine ausgewachsene Umweltorganisation erwartet, doch bei den letzten Emailkontakten habe ich schon einen Verdacht geschöpft, der sich jetzt bestätigt: In einer kleinen Seitenstraße zwischen Nudelbars und Friseurladen zeugen nur ein ausgedrucktes Bild von Delfinen und ein knittriger Zettel davon, dass hier für den Schutz der Meeressäuger gekämpft wird.

Leicht zu übersehen: Hier versteckt sich Japans Anti-Walfangorganisation

Im ersten Stock erwartet mich die gesamte Vollzeit-Belegschaft von IKAN, sie besteht allerdings nur aus einer einzigen Person. Nanami Kurasawa ist eine sympathische Frau mit schulterlangen grauen Haaren. Sie ist vielleicht Ende sechzig, ihre Altersflecken hat sie sorgfältig überschminkt. „Vor einer Weile“, erzählt Nanami, „hat mich eine französische Journalistin interviewt. Ich habe mit meinem schlechten Englisch geantwortet, der Artikel enthielt ein paar Fehler.“ Deswegen habe ich Hanae Shiga dabei, die mir beim Übersetzen hilft.

Außer Nanami Kurasawa arbeiten noch etwa acht weitere Leute bei IKAN, alle in Teilzeit. Im Moment sei die Organisation nicht sehr aktiv, sagt die Umweltaktivistin – das Thema ist in Japan nicht gerade populär. Vielleicht, weil viele Japaner Wale und Delfine als natürliche Ressource betrachten, ähnlich wie Fische und Meeresfrüchte. Das spiegelt sich auch darin wider, dass die Meeressäuger in den Verwaltungsbereich der Fischereibehörde fallen. Das Iruka & Kujira Action Network will erreichen, dass diese Zuteilung verändert wird. „Wir glauben, dass sie vom Umweltministerium verwaltet werden sollten“, sagt Nanami. Damit wären sie besser geschützt.

Die Flyer und Info-Faltblätter, die IKAN produziert, sprechen eine deutliche Sprache. „Wissenschaftlicher Walfang – Es ist Zeit, aufzuhören!“, steht darauf. Laut Nanami Kurasawa eine riesige Verschwendung von Steuergeldern. Denn einerseits ist Walfang im großen Stil schon lange nicht mehr profitabel. Andererseits wollen auch immer weniger Menschen Wal essen. Vor Nanami liegt eine IKAN-Broschüre mit Diagrammen: Balken und gezackte Linien zeigen, wie sich der Verbrauch von Walfleisch in den letzten Jahren entwickelt hat. Heute isst ein durchschnittlicher Japaner in einem ganzen Jahr etwa 30 Gramm Wal. „Das ist so viel wie ein halbes Snickers!“, lacht Nanami.

Nanami Kurasawa beschäftigt sich seit dreißig Jahren mit Walfang

Warum wird nicht einfach Schluss gemacht mit dem wissenschaftlichen Walfang? „Die Regierung will die Kultur des Walessens wieder zum Leben erwecken. Es hat mit Nationalstolz zu tun.“ Die Japaner, sagt Nanami, wollen sich nicht vom Ausland diktieren lassen, was sie essen sollen.

„Traditionelle Esskultur“ ist allerdings leicht übertrieben. In ein paar Küstenregionen werden Wale und Delfine zwar tatsächlich seit Jahrhunderten, vielleicht seit Jahrtausenden gefangen und gegessen. Viele der Delfine, die dort heute noch gefangen werden, landen aber nicht auf dem Teller, sondern werden lebend an Aquarien auf der ganzen Welt verkauft, in China, Saudi-Arabien, Mexiko oder den USA. „Für die Fischer ist das viel lukrativer“, erklärt Nanami. „Für einen toten Delfin bekommen sie, sagen wir, 500 Euro. Ein lebender kann ihnen 9000 Euro einbringen.“

Doch die Aktivistin muss vorsichtig sein, wie sie ihre Forderungen formuliert, sonst könnte sie viele Menschen gegen sich und ihre Organisation aufbringen. Schon jetzt gerät IKAN oft in den Verdacht, nur wegen des Drucks aus dem Ausland gegen Walfang zu kämpfen. Deshalb nutzt Nanami nicht die gleichen emotionalen Argumente, die unter ausländischen Tierschützern populär sind – wie intelligent Delfine und Wale sind, zum Beispiel. Stattdessen konzentriert sie sich auf Dinge, die den Japanern näherliegen: die verschwendeten Steuergelder, die wichtige Funktion, die große Meeressäuger im Ökosystem erfüllen.

Am Ende des Interviews fühle ich mich entmutigt. IKAN gegen den wissenschaftlichen Walfang – mir kommt das vor wie David gegen Goliath, nur hat David in diesem Fall nicht mal eine Steinschleuder. Zum Abschluss frage ich Nanami Kurasawa, ob sie immer noch auf Erfolg hofft. Sie überlegt eine Weile. „Es ist schwierig“, sagt sie.