Taiji, die traumatisierte Stadt

Taiji ist ein verschlafenes Städtchen mit rund 3000 Einwohnern an der Südspitze der Präfektur Wakayama, umspült vom Pazifischen Ozean. Besucher aus dem Westen verirrten sich eher selten dorthin – doch das änderte sich schlagartig, als The Cove im Jahr 2009 in die Kinos kam, eine brillant erzählte, zum Teil illegal gefilmte Doku über die jährliche Delfinjagd in Taiji. Sie zeigt, wie Delfine von Fischern in die (namensgebende) Bucht getrieben und geschlachtet werden. Öko-Thriller nannten viele Kritiker den Film, denn er hat einiges von einem Krimi – spannend, emotional und voller dramatischer Bilder. Das Ende zeigt das blutrot verfärbte Wasser der Bucht, Tierschutzaktivist Richard „Ric“ O’Barry sagt: Wir müssen das Schlachten beenden, sonst gibt es keine Hoffnung. Bei der Oscarverleihung 2010 gewann The Cove in der Kategorie Bester Dokumentarfilm.

Berühmt-berüchtigt: die Bucht

So begann der Krieg: Fischer gegen Tierschützer. Aktivisten verschiedener Organisationen, unter anderem Ric O’Barrys Dolphin Project und die militanten Meeresschützer von Sea Shepherd, strömten in die Stadt. Die Stadtverwaltung von Taiji, die bisher kaum einen englischsprachigen Mitarbeiter hatte, musste sich plötzlich mit einem riesigen internationalen Medienaufgebot herumschlagen.

Auf japanischer Seite kam die heftige Kritik aus dem Ausland nicht gut an. Viele empfanden sie als undifferenziertes „Japan-Bashing“, Kulturimperialismus oder gar Rassismus. Was gibt euch das Recht uns vorzuschreiben, wie wir mit unseren natürlichen Ressourcen umgehen oder was wir essen? Diese Einstellung begegnet mir immer wieder in der Diskussion um Japans Umgang mit Meeressäugern.

In Taiji ist das besonders spürbar. Obwohl der Medienrummel sich beruhigt hat und dieses Jahr nur eine Handvoll Aktivisten gekommen sind: Mit irgendjemandem über Walfang und Delfinjagd zu sprechen, wird nicht einfach sein.

Nix los hier: der Bahnhof von Shimosato

Das merke ich schon Tage vorher, als ich versuche, eine Unterkunft zu buchen. Ich habe ein Auge auf ein hübsches AirBnB im Nachbardorf Shimosato geworfen. Doch Gastgeberin Yoko lehnt meine Anfrage erstmal ab. In Taiji habe es zu viel Ärger mit Aktivisten gegeben, schreibt sie, sie wäre zu nervös, wenn ich bei ihr wohnte. Erst nachdem ich ihr schreibe, dass ich einen offiziellen Termin mit dem Bürgermeister habe und sie einen Kontrollanruf im Rathaus gemacht hat, überlegt sie es sich anders.

Yoko hatte mich zwar vorgewarnt, dass in Shimosato nicht viel los ist, doch bei meiner Ankunft bin ich doch überrascht. Auf dem Weg zu meiner Unterkunft kommt mir nur eine einzige alte Dame entgegen, die mir zahnlos zulächelt und mich etwas auf japanisch fragt. Ich lächle und winke.

Zum Interview am nächsten Tag erscheine ich mit Dolmetscher, der extra aus Osaka angereist ist. Bürgermeister Sangen empfängt uns in einem kleinen Konferenzraum mit blauem Teppich und einer Vitrine voller Harpunen und einem traditionellen Walfangboot im Miniaturformat. Zuerst werden Visitenkarten ausgetauscht, wie bei jedem offiziellen Termin in Japan. Ich bringe meine paar Schnipsel Japanisch durcheinander und danke dem Bürgermeister fürs Essen statt für das Interview – zum Glück scheint er es nicht zu bemerken.

Bürgermeister Sangen zeigt seine Sammlung

Taiji hat eine lange Walfangtradition, erzählt Sangen-san. Historisch belegt ist der organisierte Walfang ab dem Jahr 1606. Heute jagen die Fischer allerdings nur noch Kleinwale und Delfine, die nicht unter die Konvention der Internationalen Walfangkommission fallen.

Sangen ärgert sich, dass er ständig über Walfang ausgefragt wird. Er hat sich ein Arsenal an Argumenten zurechtgelegt, das Journalisten und wütenden Aktivisten den Wind aus den Segeln nehmen soll: The Cove verbreite nichts als Lügen. Zum Beispiel behauptet der Film, der stellvertretende Chef der Walfangabteilung Hideki Moronuki habe 2008 seinen Job verloren. „Aber warum,“ sagt Sangen triumphierend, „arbeitet Moronuki dann heute immer noch im Fischereiministerium?“

Der Bürgermeister betont immer wieder: Er will nicht, dass seine Stadt immer nur mit der Delfinjagd in Verbindung gebracht wird. Ja, einige seiner Bürger seien Fischer, doch das sei nur ein kleiner Teil von Taiji, wirtschaftlich spiele er keine große Rolle. „Heute bringt das Walmuseum der Stadt viel Geld ein“, sagt Sangen. Neben Ausstellungen zur Biologie der Wale und der Geschichte des Walfangs in Taiji hat das Museum auch ein Aquarium und Delfinshows zu bieten.

Tot oder lebendig: das Museum zeigt Wale in allen Formen

Wada-san, der junge Assistent des Bürgermeisters legt eine Illustration auf den Tisch, Sangens Plan für die Zukunft seiner Stadt: Ihm schwebt vor, Taiji in einen Tourismus-Hotspot zu verwandeln. Die berüchtigte Bucht soll teils Meereswissenschaftler aus aller Welt anziehen, teils Vergnügungspark werden, wo sich Mensch und Tier friedlich begegnen. Bisher hat Sangen eher kleine Schritte unternommen, um seine Stadt touristenfreundlich zu gestalten: Ein schickes neues Besucherzentrum ist entstanden, Taijis Bahnhof hat als einziger in der Umgebung einen Fahrstuhl. Besonders stolz ist der Bürgermeister auf die modernen öffentlichen Toiletten, die er überall in der Stadt installiert hat. „Die benutzen auch die Aktivisten“, sagt er trocken.

Nach ein paar Tagen in der Stadt und mehreren Gesprächen bleibt bei mir vor allem ein Eindruck hängen: Taiji leidet unter einem kollektiven Trauma. Acht Jahre danach ist die Erinnerung an The Cove und die Folgen immer noch frisch – eine Hürde, die Bürgermeister Sangen wohl erst überwinden muss, damit seine großen Pläne aufgehen können.