Rotz, Rastafaris und Heinz Kühn

Seit einer Woche bin ich nun wieder in Nordrhein-Westfalen, im Bergischen Land. Und alles fühlt sich surreal an. Dass ich bei 7 Grad und Hagel über durchgehend geteerte Straßen spaziere. Dass die Erde hier braun und nicht rot ist. Dass so wenig Menschen draußen unterwegs sind, und Fremde sich höflich distanziert miteinander unterhalten – aber nicht, als ob sie sich schon jahrelang kennen würden.

Die letzten Wochen

Ich habe es geahnt. Nach sechs Wochen in den Tropen fremdel ich mit meiner alten Heimat. Deswegen schweifen meine Gedanken häufig bei ausgiebigen Spaziergängen Richtung Ghana ab. Ich denke an die letzten beiden Wochen meiner Recherchereise. Zum Beispiel daran, wie ich zehn Tage am Stück in meinem Zimmer lag. Erkältet, mit Magenschmerzen und Durchfall. Diese Mischung kann ich im Übrigen wirklich nicht empfehlen.

Als die Beschwerden am zehnten Tag immer noch nicht abgeklungen waren, habe ich zum Hörer gegriffen, und die Sprechstundenhilfe des Amtsarztes der deutschen Botschaft gefragt, ob sie auch „normale“ Bundesbürger behandeln. 45 Minuten später stand ich vor einer olive-grünen Villa im Kolonialstil. Von außen durch eine Schranke und ein Wachthäuschen mit Bundesadlersymbol gesichert, sah die Praxis von innen schlicht, hell und steril aus. Der Arzt, Afrikafan und Rheinländer – direkt sympathisch, hat mir Antibiotika verschrieben. „Zur Sicherheit.“, wie er sagt, „Sie haben nix Ernstes. Nur eine normale Infektion.“ Die Pillen haben sofort gewirkt.

Als ich wieder gesund war, waren also andertalb Wochen unwiederbringlich weg. Ich hatte so viel Zeit verloren, dass ich all meine Pläne von Reisen und Interviews über Bord werfen konnte. Moment, was hatte ich hier noch gleich gelernt? Ach ja: Lass es fließen. Einfach sehen, was sich ergibt. In Afrika ergeben sich Sachen. Planung ist häufig sinnlos.

Und so ergab es sich, dass ich den ersten Tag nach meiner Genesung mit einem jungen Wissenschaftler aus Deutschland in den Bergen nördlich von Accra wandern war. Er hatte Kontakt zu einem Doktor der Soziologie, der an der Universität zum „digital divide“ in Ghana forscht. Zwei Tage später saß ich diesem Gelehrten gegenüber. Einen Experten in Gestalt eines neutralen Wissenschaftlers zu finden, ist schwierig. Oder exakter ausgedrückt: Es ist nicht allzu schwierig Doktoren, Professoren und Forscher zu identifizieren. Die meisten sind in sozialen Netzwerken und auf Uni-Webseiten präsent, und tauchen auch hin und wieder in örtlichen Medien auf. Aber einen Termin bei der intellektuellen Elite zu kriegen – da wird noch eher der 1. FC Köln deutscher Meister der Fußball Bundesliga.

Die letzten Tage

Noch fünf Tage in Ghana. Noch fünf Tage bis der Flug zurück nach Europa geht. Diese fünf Tage haben sich angefühlt, als ob jemand einen Film schnell vorspult, dafür aber zwischendurch bestimmte Szenen nur mit halber Geschwindigkeit laufen lässt: Ich bin mit einer Freundin am Stadtstrand von Accra, und wir versuchen dem Müll und den Fäkalien auszuweichen, die von der Kanalisation ins Meer ausgespuckt werden.

– Vorlauf – Ich stehe auf der Terrasse eines Freiluftclubs. Das lokale Bier dröhnt in meinem Schädel. Ich sehe Miniröcke, die zur Musik von Rapper „Patoranking“ hin und her schwingen. Ein Typ packt mich an der Schulter und erzählt mir, dass er eine NGO gegründet hat, und dass er Ghana nach vorne bringen will.

– Vorlauf – Ich stehe am Rand einer Kloake. Ich blicke auf ein Flussbett, in dem kein Tropfen Wasser zu sehen ist. Dieser „Fluss“ ist nicht etwa ausgetrocknet. Sondern meterhohe Abfallberge liegen staubbedeckt auf der Wasseroberfläche. Zwischen Plastikflaschen, Essensresten, Verpackungen, und Plastiktüten picken Vögel nach Nahrung. Eine Frau am Ufer erzählt mir, dass sie Angst vor der Regenzeit hat. Denn dann schwillt der Fluss an, und hebt den Müll über die Betonwände am Ufer – und eine gesundheitsschädliche Suppe aus Plastikresten und Fäkalien verwüstet Geschäfte und Wohnhäuser. Es stinkt bestialisch.

– Vorlauf – Reaggaeparty in Kokrobite, einem Dorf direkt am Strand. Die Rastas nerven mich. Nein, ich will nicht kiffen. Ich will keine selbst gemalten Bilder kaufen. Und ich will auch keine Frau kaufen.

– Vorlauf – Ich stehe im Innenhof der ehemaligen Sklavenburg „Cape Coast Castle“. Eben habe ich eine Führung durch die Kerker mitgemacht. Donkor, der Guide, hat erklärt, wie zuerst die Portugiesen, dann die Niederländer und dann die Briten Afrikaner versklavt haben. Unter welchen unwürdigen Bedingungen die Sklaven in der Burg gehalten wurden. Wie schändlich Frauen behandelt wurden. Wie Männer ermordet wurden, wenn sie sich gegen die Versklavung gewehrt haben. Wie können Menschen nur so grausam zu anderen Menschen sein? Und doch: Verdammich, es ist schön hier. Idyllisch liegt diese Festung an der Goldküste. Zur Linken der Blick auf die Stadt Cape Coast, zur Rechten der Atlantik. Donkor, der Guide, trifft den Nagel auf den Kopf: „The British built a beautiful place, where they did horrible things.“

Die letzten Minuten

Ich sitze in einem Bistro im Terminal 3 des Kotoka International Airport. Ein bröseliges Chicken-Mozzarella-Panini in der einen, ein Pils in der anderen Hand. Vor sechs Wochen bin ich in ein komplett fremdes Land gereist. Ich kannte niemand in Ghana. Ich kannte die Kultur nicht. Ich kannte Ghana nur von Wikipedia, Youtube-Videos, und Presseartikeln. Sprich gar nicht.

Vor sechs Wochen kam ich mit dem Plan, das ganze Land zu bereisen, jeden Tag mindestens zwei wichtige Leute zu interviewen, und gleichzeitig Beiträge bei allen Auslandsredaktionen Deutschlands zu lancieren. Sobald ich aus dem Flughafengebäude getreten war, wusste ich jedoch, dass ich naiv war. Die Reise ist in jeglicher Hinsicht anders verlaufen, als ich erwartet hätte. Ich war insgesamt vier Wochen nur in der Hauptstadt Accra. Diese Stadt hat mich irgendwie in ihren Bann gezogen. Mit ihrem Dreck und beeindruckenden Menschen. Mit ihren verstopften Straßen und offenen Herzen.

Menschen aus allen sozialen Schichten haben mich an ihrem Leben teilhaben lassen. Ich habe entdeckt, wie dieses westafrikanische Land tickt, habe viel über die Eigenheiten der ghanaischen Gesellschaft gelernt. Vor allem aber habe ich viel über Journalismus gelernt.

Eine Woche lang hatte ich das Glück den (Schul-)Alltag in einem kleinen ghanaischen Dorf an der Grenze zu Togo mitzuerleben. Ich war in den Bergen wandern, und habe die ehemalige Sklavenstadt Cape Coast gesehen.

Das Heinz-Kühn-Stipendium

Niemand in Ghana hat auf einen Radioreporter aus Deutschland gewartet. Niemand hat es für wichtig erachtet, Absprachen und Termine einzuhalten. Geschweige denn zurückzurufen oder zurückzuschreiben. Alles funktioniert über Kontakte. Und für alles ist viel Geduld nötig.

Vor diesem Hintergrund bin ich froh und stolz, viel über mein Recherchethema „Digitalisierung“ herausgefunden zu haben. Dass wirklich alle, vom Taxifahrer bis zum Vizepräsidenten, große Hoffnungen in die Digitalisierung setzen. Die Politik hofft auf Korruptionsabbau und höhere Steuereinnahmen. Die Industrie spricht davon, Wertschöpfungsketten besser auszunutzen. Unternehmer sind fasziniert, dass sie für ein eigenes Business nur eine Idee und einen Laptop brauchen. Und Jugendliche wollen ganz viel lernen, und sind gespannt darauf, welche neuen Welten der digitale Kosmos für sie bereit hält.

Die Kehrseite der Medaille zeigt sich in Form von Fake-SMS. Alle Nutzer von „mobile-Money“, sprich fast alle Ghanaer, kennen betrügerische Textnachrichten: Angebliche Mitarbeiter von Telekommunikationsanbietern räumen eine angebliche Fehlbuchung ein. Und bitten darum, Betrag X an das angegebene Konto zurück zu überweisen.

Eine schreckliche Seite der Digitalisierung zeigt sich beim Umgang mit Schwulen und Lesben. Viele Ghanaer sind sehr homophob. Einige erstellen sich Fake-Profile auf Dating-Apps für Homosexuelle. Locken Schwule und Lesben dann zu fingierten Dates – und verprügeln und foltern diese dann am Treffpunkt. Die Täter filmen ihre Tat und verbreiten die Videos anschließend im Netz. Und gerade das Internet ist de facto der einzige Ort, an dem Menschen der LGTBQ-Community ihre Sexualität frei ausleben können.

Es hat viel von mir abverlangt, in ein fremdes Land zu reisen. Mit nicht viel mehr als einem groben Konzept für meine Recherche im Kopf. Die Kommunikationswege laufen anders, als in Deutschland. Die Art zu Reisen ist anders. Die Art mit Menschen in Kontakt zu kommen, auch die Art Kritik zu üben, ist anders. Ich musste auch erstmal eruieren, welche Tabus es gibt, und welche Themen man besser nicht oder nur vorsichtig anspricht. All das sind journalistische Grenzerfahrungen. Erfahrungen, die man erst dann macht, wenn man die Komfortzone der bekannten Umgebung verlässt.

Ich bin dankbar, dass mir das Heinz-Kühn-Stipendium diese Erfahrung ermöglicht hat.