Zwischen Kommunismus und Kapitalismus

Was ich sehe und was ich höre, passt gerade nicht zusammen. Ich sehe Reisfelder, vereinzelte Häuser, eine verlassene Straße. Eine landschaftliche Idylle. Wären da nicht die wiederholten Durchsagen, die blechern-scheppernd aus alten Lautsprechern schallen. Auch Musik gehört zum Programm, vorzugsweise Märsche oder Volkslieder. Die sozialistische Regierung in Vietnam beschallt das Volk in den Reisfeldern und in den Stadtbezirken Hanois. Ob es will oder nicht.

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Früher hatten die Lautsprecher eine lebenswichtige Funktion: Sie warnten in der Kriegszeit vor Luftangriffen und dienten der Nachrichtenübertragung. Heute wirken sie antiquiert. Zumindest in den Städten sehe ich genauso viele Leute, die auf ihr Smartphone starren, wie in Deutschland. Die Vietnamesen sind längst online. Und dennoch ertönen regelmäßig Loblieder auf die Kommunistische Partei, Informationen und Verhaltensregeln aus den Lautsprechern. Wie man seinen Müll richtig entsorgt oder dass man sich demnächst impfen lassen soll. Solche Dinge.

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Der staatlich verordnete Sozialismus äußert sich nicht nur in den skurrilen Lautsprecherdurchsagen. Ho Chi Minh, der Vater der Nation, ist allgegenwärtig. In allen Klassenzimmern und den meisten Wohnzimmern hängt ein Bild von „Onkel Ho“, dem Gründer der Kommunistischen Partei Vietnams. Seit nunmehr über 40 Jahren regieren die Kommunisten das Land – und ihre Botschaften sind nicht zu übersehen. Laternen und Straßenmasten sind großflächig mit kommunistischen Parolen plakatiert. Gleich daneben werben ausländische Firmen für das neuste Tablet oder Auto. Vietnam zwischen Kommunismus und Kapitalismus.

Seit Beginn der Wirtschaftsreformen in den 80er Jahren vollführt Vietnam einen Spagat zwischen sozialistischem Einparteiensystem und freier Marktwirtschaft. Die Regierung ist stolz auf den konstanten Wirtschaftsboom und fördert Wachstum und Tourismus. Doch während sich das Land ökonomisch öffnet, bleibt das politische System unantastbar. Kritik am korrupten Staatsapparat ist streng verboten. Blogger und Aktivisten, die sich für mehr Demokratie einsetzen, müssen mit Haftstrafen rechnen. Der Staat kontrolliert die Medien.

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Wenn ich mit Vietnamesen über all das spreche, erlebe ich eine gespaltene Gesellschaft. Während die Älteren noch an den Kommunismus glauben, würde die Jugend am liebsten raus aus Vietnam. Eine Ausbildung und ein Job im Ausland – das wünschen sich viele. Ein alleinerziehender Taxifahrer erzählt mir, dass er seiner Tochter keine gute Schule bezahlen kann. Ihr Name bedeutet übersetzt „Schnee“. Der junge Mann hat noch nie Schnee gesehen, träumt aber von einem besseren Leben in Amerika oder Europa. Die Regierenden würden den Westen verteufeln, ihre eigenen Kinder aber selbst dorthin an teure Schulen schicken. Offene Rebellion? Nein. Die Vietnamesen hätten Angst, sagt er.

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Heiligabend verbringe ich bei einer vietnamesischen Familie, die in Hoi An ein paar Zimmer vermietet. Für die Gäste aus Deutschland, Holland und Chile gibt es ein gemeinsames Essen, sogar einen Weihnachtsbaum hat die Familie aufgestellt. Während des Essens kommen wir auch auf politische Themen zu sprechen. Unser Gastgeber, ein ehemaliger Englischlehrer um die 60, ist überzeugt vom Einparteiensystem. Gäbe es mehr Parteien, würden die sich doch nur streiten und nichts voranbringen. So sei es friedlich und sicher. Die Diskussion ist lebhaft, aber nicht unfreundlich. Zuallererst sei er Patriot, erklärt der Familienvater, und verweist auf die schwierige Geschichte seines Landes. Vietnam hat hart für seine Unabhängigkeit gekämpft. Erst gegen China, dann gegen die Kolonialmacht Frankreich, schließlich im Vietnamkrieg gegen die USA. Kein Wunder, dass die ältere Generation vor allem an Einheit und Stabilität interessiert ist.

Auch der wirtschaftliche Aufschwung trägt dazu bei, dass in Vietnam von Rebellion aktuell wenig zu spüren ist. Gleichwohl werden mit dem wachsenden Wohlstand auch die sozialen Missstände immer offensichtlicher. So können die schönen Wirtschaftsdaten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die meisten Vietnamesen immer noch von Armut betroffen sind. Und der Staat bietet keine ausreichenden sozialen Absicherungen. Nur Wohlhabende können sich im Krankheitsfall eine teure Behandlung leisten. Wer arm ist, muss zum Sterben nach Hause gehen.

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Obwohl es nicht im Mittelpunkt meiner Recherche steht, finde ich die politische Situation in Vietnam spannend. Nicht zuletzt, weil das Bildungssystem natürlich eng damit verknüpft ist. So wie ich Vietnam erlebe, spaltet der Kommunismus derzeit die Generationen. Die Kriegsgeneration glaubt noch an das bestehende System. Und die Jüngeren sind zwar unzufrieden, aber eher an Konsum interessiert als an Politik. Insofern ist es fast schon sinnbildlich, dass in Vietnams Straßen kommunistische Plakate und Werbeplakate für westliche Produkte direkt nebeneinander hängen.