In Ruanda gibt es ein Entwicklungshilfeprojekt, das zunächst etwas absurd anmutet. Es heißt „One Laptop Per Child (OLPC)“. Die amerikanische OLPC-Stiftung hat sich zum Ziel gesetzt, möglichst vielen Kindern in Entwicklungsländern einen eigenen Computer zur Verfügung zu stellen. Den Kindern sollen sich so Bildungschancen eröffnen, die sie ohne Computer nie bekämen. Langfristig soll so die digitale Kluft zwischen der Ersten und der Dritten Welt verkleinert werden.
Die Stiftung wurde anfangs belächelt, denn sie wollte für ihr Vorhaben einen eigenen billigen Computer bauen. Sie haben es gegen alle Widerstände tatsächlich geschafft. Der Kinder-PC heißt XO, ist aber besser bekannt unter dem Namen „100-Dollar-Laptop“. Allerdings kostet er 200 Dollar pro Stück, aber dazu später mehr.
Bis Januar 2011 hat OLPC weltweit zwei Millionen Laptops verteilt. Ein riesiger Erfolg, mit dem anfangs niemand gerechnet hat. Die Stiftung ist weltweit, aber hauptsächlich in den Schwellenländern Südamerikas aktiv. Nun besuchte vor nunmehr fast sechs Jahren der ruandische Präsident Paul Kagame während eines USA-Aufenthaltes eine Präsentation des Stiftungsgründers, auf der dieser die Computer und seine Vision vorstellte. Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen, hat der deutsche Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt einmal gesagt. Kagame ging aber nicht zum Arzt sondern zurück nach Ruanda und verordnete seinem Land eine Bildungsoffensive. Er hatte die einmalige Chance und das riesige Potential von OLPC für sein Land erkannt. Seitdem ist Ruanda das mit Abstand größte OLPC-Projekt in Afrika.
In diesem Punkt unterscheidet sich Ruanda vielleicht von vielen anderen afrikanischen Staaten. Seit Kagame Präsident ist, versucht sich Ruanda aus dem Netz der Entwicklungshilfe zu befreien, in dem es sich das Land – wie viele andere afrikanische Staaten auch – bequem gemacht hatte. Man will nicht länger von Almosen abhängig sein, man will selbst investieren und Investoren anlocken. Ruanda soll Drehscheibe und Anlaufpunkt für ausländische Konzerne werden. Das bedeutet nicht, dass man ausländische Entwicklungshilfe nicht dankend annimmt. Doch darüber hinaus kämpft die Regierung Kagame um mehr. So kauft sie zum Beispiel die Kinder-Laptops für Millionen Dollar.
Die große Verteilwelle begann im Herbst 2010. Nach umfangreichen strukturellen Vorbereitungen und Pilotprojekten wurden 60000 Computer an die ersten 150 Schulen verteilt. Ein Investment in die Zukunft Ruandas, bei dem allein die PC 12 Millionen Dollar gekostet haben.
Man kann es eine Schnapsidee nennen, in einem Land wie Ruanda ausgerechnet Computer an die Kinder zu verteilen. Die überwiegende Mehrheit der Menschen hier lebt ohne Strom und fließendes Wasser in ihren Hütten. Um die Laptops überhaupt aufladen zu können, mussten an vielen Schulen zunächst einmal Stromleitungen gelegt werden. Die Anbindung ans Internet ist das weitaus kleinere Problem. Sie ist über Ruandas hervorragendes landesweites Mobilfunknetzwerk garantiert.
Doch die Idee ist nur für Aussenstehende seltsam. Wenn man sich eine Weile damit befasst, dann erkennt man, dass das OLPC-Projekt ein Baustein im Masterplan für Ruanda ist. Die Impfraten bei Kindern sind mittlerweile relativ hoch (es gibt regelmäßige Impftage) und 85 Prozent der Bevölkerung verfügt über eine Krankenversicherung. Es geht Kagame also jetzt nicht nur mehr darum, den Status Quo und das Überleben der Menschen zu sichern. Er will dem Land (sechzehn Jahre nach dem Genozid) eine Zukunft geben.
Die Methoden sind dabei nicht immer lupenrein demokratisch. Es gibt eine heftige Debatte, inwieweit das streben nach Wohlstand Vorrang vor demokratischen Strukturen hat. Ohne das System Kagame verteidigen zu wollen: Es ist einfach eine Tatsache, dass sich wirtschaftliche Reformen in Diktaturen wie zum Beispiel China viel schneller vollziehen lassen, als das in Demokratien westlicher Prägung der Fall ist. Nun ist Ruanda keine Diktatur, allerdings werden hier manche demokratischen Spielregeln – auch über die Grenzen des Erträglichen hinweg – außer Kraft gesetzt, um den wirtschaftlichen Fortschritt voranzutreiben.
Doch zurück zum OLPC-Projekt: Naturgemäß ist es in Afrika mitunter etwas mühsam und langwierig, mit offiziellen Stellen Kontakt aufzunehmen. Die Details will ich dem geneigten Leser ersparen, nur soviel: Emails und Anrufe allein reichen nicht, persönliche Vorsprache wirkt dagegen Wunder. So kommt man dann auch in die OLPC-Stiftung in Kigali. Die Stiftung hat in Ruanda nur acht Angestellte. Das reicht aber, denn sie ist nur der Brückenkopf zur amerikanischen Stiftungszentrale. Hier in Kigali sitzen Spezialisten, die die Verteilung der Laptops planen, Schulungsunterlagen zum Beispiel für Lehrer vorbereiten und – ganz wichtig – den Kontakt zum Bildungsministerium halten.
Das Verhältnis zwischen der OLPC-Stiftung und dem Bildungsministerium ist ein sehr sensibles. Die Regierung ist sehr darum bemüht, die Kontrolle über jeden einzelnen Vorgang zu behalten. Jeder Schritt der Stiftung muss abgestimmt werden. So darf OLPC nicht einmal defekte Laptops ohne Erlaubnis der Regierung reparieren, auch das möchte das Land selbst erledigen (und lernen). Das von der Stiftung auf die Beine gestellte Schulungszentrum hat sich das Bildungsministerium nach kurzer Zeit einverleibt. Bei jedem Schritt macht die Regierung klar: Das hier ist ein ruandisches Infrastrukturprojekt, keine Entwicklungshilfe einer amerikanischen Stiftung. Die OLPC-Stiftung ist willkommen als Berater, die Umsetzung ist aber Sache des Staates Ruanda, schließlich kauft man die Computer für 200 Dollar das Stück.
Vielleicht sollte ich einmal ein Wort über den Gegenstand all meiner Betrachtungen verlieren, den Kinder-Laptop XO (sprich Ix-Oh). Der XO ist ein billiger Computer, aber bei weitem kein Billigcomputer. Die Leistungsdaten können sich durchaus sehen lassen: Das Gerät verfügt über einen stromsparenden 1-Gigahertz-Prozessor (das ist kein Renner), 1 Gigabyte RAM, einen 19 Zentimeter-Farbmonitor, ein wasserdichtes Keyboard, ein Mikrofon, eine eingebaute Webcam und eine 4 Gigabyte Festplatte.
Das Betriebssystem ist ein (kostenloses aber sehr mächtiges und gutes) Linux-System. Der PC hat zwei verschiedene Oberflächen, die wahlweise gestartet werden können. Für kleine Kinder gibt es „Sugar“, eine bunte Oberfläche voller Symbole und kindgerechter Anwendungen, Bücher, Physikprogramme, Musikprogramme, etc. Für die Älteren gibt es das handelsübliche „Gnome“, eine windows-ähnliche Oberfläche. Die enthält einen normalen Browser, Textverarbeitung, etc. Im Ministerium und in der Stiftung benutzen die Mitarbeiter diese PC sogar zum arbeiten! Denn bei weitem nicht jeder hier kann sich einen eigenen Laptop leisten!
Der XO ist so gebaut, dass er unter den härtesten denkbaren Bedingungen in Entwicklungsländern eingesetzt werden kann. Ein normaler Büro-PC überlebt etwa zwei bis 3 Jahre. Der XO soll fünf Jahre schaffen, auch aus Gründen des Umweltschutz. Er ist wasser- und staubabweisend. Die Batterie hält zwei Stunden, sie ist leistungsfähiger, umweltfreundlicher und trotzdem billiger als herkömmliche Laptop-Batterien, auch weil der XO wesentlich weniger Strom verbraucht als andere Computer. Das Gehäuse ist schlagfest, der XO überlebt Stürze aus einer Höhe von bis zum eineinhalb Metern. Das Keyboard hält fünf Millionen Anschläge aus. Angesichts dieser Leistungsdaten ist es ein kleines Wunder, dass der XO „nur“ 200 Dollar pro Stück kostet.
Die Ausfallrate liegt angeblich bei unter drei Prozent. Der kleine Computer ist zwar sehr robust konstruiert, der Einsatz erfolgt aber unter brutalsten Feldbedingungen: Hitze, Staub, Feuchtigkeit. Und nicht zuletzt Kinder, die die Geräte auf eine harte Belastungsprobe stellen: Sie Fallen über Kabel, lassen den PC fallen oder stellen ihre ganz eigenen Experimente mit dem kleinen Gerät an.
Bei der Einführung hatte man den Kindern anfänglich fatalerweise erklärt, dass der Computer wasserabweisend sein. Manche probierten das aus – mit ihren Wasserflaschen. Ein Kind versenkte das Gerät gar für eine Woche in einem Wassertank, um die Grenzen auszutesten. Experimentalphysik zum anfassen sozusagen. Der Laptop taugte nach diesem Härtetest natürlich nur noch als Hammer, um damit Nägel in die Wand zu schlagen. Andere wuschen ihren staubigen Laptop im nächstgelegen Wassergraben und nach so einem Vollbad hatten die Geräte dann ebenfalls Schrottwert. Angesichts solcher Einsatzbedingungen grenzt es an ein Wunder, dass die Ausfallrate bei nur drei Prozent liegt.