Der schrille Pfiff lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Mit Trillerpfeife im Mund und einer herrischen Handbewegung weist der uniformierte Aufpasser die wartenden Fahrgäste an der Haltestelle Rajiv Chowk im Stadtzentrum zurecht. Den Blick gesenkt, stellen sich die Männer umgehend in mehreren Reihen entlang der Markierungen auf dem Bahnsteig an. Ordentlich Schlange stehen hat im indischen Nahverkehr nicht unbedingt Tradition. Üblicherweise muss man schubsen und drängeln, wenn man mit dem Zug oder Bus fahren will. Doch in der U-Bahn von Delhi ist das anders. Auf jedem Bahnsteig sorgen Sicherheitskräfte in schwarzer Uniform für Ordnung. Besonders zu den Hauptverkehrszeiten ist dies auch nötig. Obwohl die U-Bahn im Zwei-Minuten-Takt fährt, drängen sich die Fahrgäste auf den Bahnsteigen.
Für den weiteren Ausbau des U-Bahn-Netzes fehlt das Geld
„Für mich ist die Metro eine echte Lebensader, ich wüsste nicht, was ich ohne die U-Bahn machen würde“, sagt Phagya Kumar. Die 21Jährige kommt gerade von der Uni und wartet auf den nächsten Zug, um nach Hause zu fahren. „Ich komme für 18
Rupien zur Vorlesung, für ein Taxi würde ich das Vierfache bezahlen“, erklärt die Politikstudentin.
An jeder Station gibt es die Fahrkarten in Form von runden Plastikchips zu kaufen. Je nach Entfernung kosten sie acht bis 30 Rupien, umgerechnet rund 15 bis 50 Cent pro Fahrt. Rund 1,5 Millionen Fahrgäste nutzen täglich die insgesamt sechs Linien, die die Stadt in allen Himmelsrichtungen durchkreuzen. Erst Ende 2002 wurde der erste Abschnitt in Betrieb genommen. Inzwischen umfasst das U-Bahn-Netz eine Strecke von insgesamt rund 160 Kilometern. Im Frühjahr 2011 soll eine weitere Linie eröffnet werden, die die Innenstadt mit dem Flughafen verbindet. Erste Pläne, ein U-Bahn-Netz zu bauen gab es bereits in den 70er Jahren. 1984 ließ das indische Eisenbahnministerium einen ersten Entwicklungsplan anfertigen, der längst überholt war, als die Bauarbeiten 1998 schließlich begannen. Die Baukosten von bisher umgerechnet drei Milliarden Euro wurden zur Hälfte mit Krediten der japanischen Regierung finanziert, die andere Hälfte teilen sich die indische Zentralregierung und die Stadtregierung. Der geplante weitere Ausbau steckt allerdings derzeit gerade fest: Die Stadt sieht sich außer Stande, die Erweiterung des Streckennetzes um noch einmal 100 Kilometer zu finanzieren und sucht dringend Geldgeber.
Als der Zug in Rajiv Chowk einfährt, gibt es doch noch Gedränge. Die Wartenden schieben sich sofort in die geöffneten Türen. Vergeblich versuchen die Ordnungskräfte, erst die Passagiere aus dem Zug aussteigen zu lassen. Rajiv Chowk ist die Station am Connaught Place, einem zentralen Einkaufszentrum in der Innenstadt. Hier kreuzen sich Linie 2 und 3 – damit ist Rajiv Chowk eine der Stationen mit dem höchsten Passagieraufkommen. Nicht nur zu Zeiten des Berufsverkehrs sind die Bahnsteige hier überfüllt. Dabei könnte das Gedränge deutlich verringert werden, denn die Bahnsteige sind von der Länge her für acht Waggons konzipiert – die meisten Züge haben aber nur vier und bieten damit Platz für nur 1.400 Fahrgäste statt für 2.800. „Wir arbeiten daran“, ist der einzige Kommentar der Betreibergesellschaft, der Delhi Metro Rail Corporation.
Waggons nur für Frauen
Nach zwei Minuten Schubsen und Drängeln haben überraschenderweise doch alle Wartenden im Zug Platz gefunden, dann ertönt die Ansage „stand away from the doors – bitte Türen freimachen“, die U-Bahn fährt ab. Dicht an dicht stehen die Fahrgäste in dem von vorn bis hinten durchgängigen Zug. Von der Decke baumeln Haltegriffe, entlang der Außenwände sind Sitzreihen angebracht. Über jeder Tür weist eine elektronische Anzeige die nächste Station aus. Dazu gibt es Ansagen
in Hindi und Englisch. Die Züge sind peinlich sauber, niemand isst oder trinkt während der Fahrt – mag es auch noch so voll sein. Der erste Waggon ist für Frauen reserviert – eine Regelung, die auch für alle Züge im Fernverkehr gilt. Kein Mann würde es wagen, dort einzusteigen. Verirrt sich doch mal einer, machen ihm die umstehenden Damen sehr energisch deutlich, dass er sich in der Tür geirrt hat. Mit gesenktem Kopf verzieht sich der Delinquent dann so schnell wie möglich in den hinteren Zugteil.
Die Fahrt geht in Richtung Süd-Delhi, wo die wohlhabenderen Stadtviertel liegen. An der Station Central Sectretariat steigen die meisten aus – hier liegen das Parlamentsgebäude und der Präsidentenpalast. Die U-Bahn hält direkt vor dem Parlamentsgebäude – ein seltener und sicher nicht zufälliger Luxus. „Viele Leute würden die Metro gern öfter nutzen, sagt Rajiv Ghiri, ein junger Ingenieur, der am Eingang zur Metro auf Freunde wartet. „Leider sind viele Stadtviertel gar nicht an das System angeschlossen, und wenn, dann muss man sehr weit laufen“, sagt der 28Jährige: „Ich muss zum Beispiel mit dem Auto zur Arbeit fahren, es gibt keine Alternative.“
Spießrutenlauf zum U-Bahn-Eingang
Das Netz geht zwar in alle Himmelsrichtungen, ist aber nicht engmaschig genug und schlecht an die anderen öffentlichen Nahverkehrsmittel angebunden. So hat das Institut für öffentlichen Nahverkehr in Delhi herausgefunden, dass Fahrgäste im
Durchschnitt 200 Meter laufen müssen, um von einer Bushaltestelle zum Eingang der Metro zu gelangen. Das klingt zunächst nicht wirklich dramatisch – doch für die Einwohner von Delhi ist es ein wirkliches Hindernis. Denn oft fehlen an den Hauptverkehrsstraßen Fußgängerbrücken, und wer einmal versucht hat, auf dem vierspurigen Kreisverkehr des Connaught Place auf die andere Straßenseite zu gelangen, weiß, dass dies ein zeitraubendes und gefährliches Unterfangen ist.
Ein weiteres Ärgernis für genervte Kunden: Manche Stationen sind mit dem Bus nicht zu erreichen. „Oft muss man vier Kilometer mit dem Taxi fahren, um zur U-Bahn zu gelangen“, sagt Anumita Roychowdhury, Expertin für Öffentlichen Nahverkehr beim Centre for Science and Environment (CSE), der größten indischen Umweltorganisation. Deswegen nutzen die meisten Fahrgäste nach einer Umfrage des renommierten Indian Institute for Technology die Metro erst für Strecken ab zwölf Kilometern. „Es lohnt sich nicht, die Metro für kürzere Fahrten zu nehmen, weil man viel zu lange braucht, um zur Haltestelle zu gelangen“, sagt Professor Geetam Tiwari, Leiter der Studie. Dies mag eine Erklärung dafür sein, warum die Fahrgastzahlen noch immer deutlich hinter den Prognosen liegen: Mit mehr als drei Millionen täglichen Nutzern hatten die Betreiber gerechnet – doppelt so viele wie es derzeit sind. Blickt man auf die demographische Entwicklung, so werden 2021 zehn Millionen Menschen mehr in Delhi leben als derzeit. „Wenn das Metro-Netz nicht schleunigst ausgebaut und die Anbindung an das Busnetz verbessert wird, verspielen wir die Chance, es besser zu machen als andere Megastädte in Asien, die jetzt schon im Verkehr ersticken“, sagt Verkehrsexpertin Anumita Roychowdhury.
Delhi 2020: Neun Millionen Fahrzeuge verstopfen die Straßen
Die U-Bahn deckt Zurzeit gerade mal fünf Prozent des täglichen Personennahverkehrs insgesamt ab. Den Großteil übernehmen immer noch die Busse. Die Zahl der Fahrgäste nimmt allerdings kontinuierlich ab. Nutzten vor zehn Jahren noch 60 Prozent diese Fortbewegungsmöglichkeit, sind es heute nur noch 40. „Das ist ein dramatischer Rückgang, der sich nur durch die Zunahme der Staus erklären lässt“, sagt Anumita Roychowdhury. “„Einen Bus besteige ich nur, wenn es gar nicht anders geht“, meint auch Rajiv Ghiri, der junge Ingenieur: „Die Sitze sind so dreckig, dass man daran festklebt“. In der Tat: Die Innenausstattung in den meisten Bussen sieht so aus, als sei sie seit Gandhis Zeiten nicht mehr ausgewechselt worden. Bleiben Rikschas und Fahrräder. Auf sie entfallen 15 Prozent des täglichen Verkehrsaufkommens, auf Motorräder, Taxis und PKW 14 Prozent. Knapp ein Viertel der zurückgelegten Wegstrecken bewältigen die Delhi-Wallas, so nennen sich die Einwohner der Stadt selbst, zu Fuß. Doch die Statistiken sind alarmierend: Bereits jetzt fahren 5,6 Millionen PKW und Motorräder auf den Straßen von Delhi, und täglich kommen 1100 dazu. „Wenn wir nicht aufpassen, werden wir in zehn Jahren knapp neun Millionen Fahrzeuge auf den Straßen haben“, warnt Anumita Roychowdhury. Dabei herrscht bereits jetzt auf den Hauptverkehrsadern Dauerstau. „Ich fahre jeden Tag 35 Kilometer zur Arbeit und abends wieder nach Hause. Im Schnitt brauche ich dafür drei bis vier Stunden“, sagt Chetan Lakhanbar, der gerade seinen Wagen am zentralen Connaught
Place aus einer engen Parklücke manövriert. Auch für ihn ist die U-Bahn keine Alternative. Er müsste dreimal umsteigen und dann noch zwei Kilometer laufen. „Da sitze ich lieber im Auto und höre Radio“, sagt der Geschäftsmann und hupt schon
mal vorsichtshalber, bevor er den ersten Gang einlegt.