Heute bleibt die Schule zu

Eigentlich soll ich mich an diesem Mittag beim Rektor des „Instituto Nacional“ melden, einer großen weiterführenden Schule im Zentrum von Santiago. Ich möchte wissen, wie staatliche chilenische Schulen von innen aussehen. Sie haben im Vergleich zu den privaten oder halbprivaten Einrichtungen, die das System dominieren, einen schlechten Ruf – wer auf eine öffentliche Schule geht, hat eigentlich schon verloren. Das Instituto Nacional nimmt dabei allerdings eine Sonderrolle ein. Die Schule gilt als eine der angesehensten des Landes, hat eine lange Tradition und schon manchen Präsidenten und andere bekannte Persönlichkeiten hervorgebracht. Jedes Jahr bewirbt sich eine Vielzahl mehr Kinder als die Schule Plätze hat. Wie es sich in dieser sagenumwobenen Bildungseinrichtung lernt, werde ich allerdings vorerst nicht erfahren, jedenfalls nicht aus eigener Anschauung. Als ich ankomme, ist das Tor geschlossen und mit Stühlen aus den Klassenzimmern blockiert – die Schüler haben das Gebäude besetzt. Da sind wir also wieder mitten im Thema.

„Wir haben gestern eine Abstimmung gemacht, gut 4000 von 4400 Schülern haben sich daran beteiligt, fast 60 Prozent waren für die Besetzung“, sagt Ignacio (17). Gemeinsam mit anderen Jugendlichen hockt er vor dem Tor und lässt niemanden ins Gebäude außer seiner Mitschüler. Drinnen beginnt gleich eine Versammlung, bei der sie das weitere Vorgehen besprechen wollen. Ihre Uniform mit dem Wappen des Instituto haben die meisten Schüler an diesem Tag zu Hause gelassen, auch Ignacio trägt sportliche Kleidung. Der Streikposten neben ihm klimpert auf der Gitarre, es wird geraucht und gelacht. Diese Revolution scheint eine entspannte Angelegenheit zu sein. Doch den Streikenden ist es ernst. „Die Besetzung ist die einzige Möglichkeit, auf die Missstände aufmerksam zu machen“, sagt Ignacio. Als da wären? „Defizite in der Administration, Lehrermangel und vieles mehr.“ Ich bin überrascht. Steht das Instituto Nacional im Vergleich zu anderen Schulen nicht viel besser da? „Wir machen das auch aus Solidarität mit anderen colegios, aber die Probleme sind überall, sogar hier.“

Ein paar Meter vom verbarrikadierten Schultor entfernt sitzt María Inés Alvarado Vigar auf einer Bank in der Sonne. Sie wartet auf eine Lehrerin des Instituto, mit der sie zum Mittagessen verabredet ist. Bis vor kurzem hat Alvarado Vigar selbst an der altehrwürdigen Schule unterrichtet. 35 Jahre lang war sie hier Kunstlehrerin. Während sie davon erzählt, kommen immer wieder ehemalige Schüler auf sie zu, die Begrüßung ist stets herzlich. „Die Kinder sind wunderbar, aber die Schule ist es nicht mehr“, sagt die Pädagogin, deren Familie – wie viele in Santiago – sich eng mit dem Instituto verbunden fühlt. Schon ihr Vater sei hier zur Schule gegangen, ebenso ihr Bruder, und wäre das Instituto offen für Mädchen, auch sie selbst hätte es wohl besucht. „Im Moment würde ich es niemandem mehr empfehlen.“ Alvarado Vigar unterstützt den Protest der Jugendlichen, die Probleme seien real. Vor allem die Infrastruktur der Schule hält sie für katastrophal.

In der Tat hatte ich mich bei einem früheren kurzen Besuch gewundert. Dass die Standards mit denen anderswo nicht zu vergleichen sein würden, hatte ich erwartet – nicht aber, dass Chiles prestigeträchtigste staatliche Schule dermaßen trist aussieht. Der Zustand des Gebäudes steht in krassem Gegensatz zu dem großen, stolzen Banner in der Eingangshalle, auf dem in amerikanischer Manier alle Schüler des neuen Jahrgangs im Bild zu sehen sind. Im Treppenhaus prangen Graffitis an den Wänden: „Chao Rector“. Aus meinem Rundgang wird wohl vorerst nichts. Ich fürchte, der Rektor hat jetzt andere Sorgen.