Zu sagen, das chilenische Schulwesen sei ein Zwei-Klassen-System, wäre falsch. Die Sache ist weitaus komplizierter, aber das macht es nicht besser. Da gibt es zum einen die Privatschulen, die die wohlhabenden Familien bedienen und sich ihren guten Ruf teuer bezahlen lassen. Daneben existiert eine eigentümliche Mischform aus öffentlich und privat, die so genannten „colegios subvencionados“. Der Staat unterstützt deren Betreiber finanziell, hält sich – gemäß der Philosophie des freien Marktes – aus den Belangen der Schule ansonsten aber heraus. Trotz der staatlichen Gelder dürfen die Anbieter übrigens auch die Eltern nochmal zur Kasse bitten, was Schulbildung in Chile zu einem regelrechten Wirtschaftszweig hat werden lassen. Nur wer sich weder eine private noch eine semi-private Schule leisten kann, schickt sein Kind in eine der öffentlichen Einrichtungen, die denkbar schlecht angesehen sind. Doch auch innerhalb der öffentlichen Schulen gibt es Abstufungen, denn für ihre Finanzierung sind die Kommunen zuständig – eine der letzten Verfügungen des Pinochet-Regimes, die bis heute gilt. Konkret bedeutet das: je ärmer eine Kommune, desto schlechter die Schule. Und zu den ärmsten Gemeinden zählen hier vor allem die, in denen die Mapuche leben, die Ureinwohner Chiles. In einem Bildungssystem, in dem fast nur gewinnen kann, wer finanzstarke Eltern hat, sind sie die Verlierer unter den Verlierern.
„Wer in einer Mapuche-Gemeinde geboren wird, ist zu schlechter Bildung und damit zu einer schlechten Zukunft verdammt“, sagt Roberto Mansilla. Er leitet die „Fundación de Desarrollo Campesino“ (Fundecam), eine Partnerorganisation von terre des hommes, die sich der Unterstützung der Landbewohner in der Region Araucanía verschrieben hat, dem Zentrum der Mapuche-Kultur in Chile. Die öffentlichen Schulen in der Gegend kennt Mansilla aus eigener Anschauung. „In den meisten spielen und essen die Kinder nur“, sagt er, während er seinen Geländewagen herauslenkt aus Temuco, der Hauptstadt Araucanías. Um den Verwahranstalten etwas entgegen zu setzen, hat Fundecam vor elf Jahren eine eigene Schule gegründet, die die Stiftung mit finanzieller Hilfe des Staates betreibt. Fünf Kilometer und ein paar lehmige Straßen von Temuco entfernt liegt sie, die „Escuela Trañi Trañi“. Sieben Lehrerinnen, erzählt Mansilla stolz, betreuen dort 86 Kinder – eine Relation, wie man sie an kaum einer anderen öffentlichen Schule findet. Ebenso stolz ist Mansilla auf die Ergebnisse, die die Mädchen und Jungen in den vergangenen Jahren beim „Simce“-Test erzielt haben, einer nationalen Vergleichsstudie. Gut, an die „reichen Schulen in der Stadt“ komme man noch nicht heran, aber immerhin.
Wenn Mansilla Besuch mitbringt nach Trañi Trañi, setzt er ihn ein paar Meter vor dem Haupteingang ab. Wer die Schule zum ersten Mal betritt, muss den Seiteneingang nehmen, der eigens in Richtung Sonnenaufgang gebaut ist. Fundecam möchte mit der Landschule noch eine weitere Lücke im chilenischen Bildungssystem schließen, die die Entwicklungshelfer beklagen: Die Mapuche-Kultur komme dort so gut wie nicht vor. Zwar ist gesetzlich festgelegt, dass ab einem bestimmten Anteil von indigenen Schülern in einer Klasse Mapudungun unterrichtet werden muss, die Sprache der Mapuche, „aber de facto passiert das nicht“, sagt Mansilla. In Trañi Trañi lernen die Kinder neben Lesen und Schreiben, Mathematik und Naturwissenschaft auch die Kultur ihrer Vorfahren kennen, die in den Familien oft kaum noch gepflegt wird – nicht zuletzt deshalb, weil die Eltern Sorge haben, es könnte ihren Kindern in der chilenischen Gesellschaft zum Nachteil gereichen.
An diesem Montagvormittag wirkt die Schule verwaist, nur aus einer großen Hütte aus Holz und Zweigen, die etwas abseits der anderen Gebäude liegt, steigt Rauch auf. Schüler und Lehrer haben sich in der „Ruca“ versammelt, der traditionellen Behausung der Mapuche, denn es ist ein besonderer Tag: der Beginn von „We Tripantu“, der Feierlichkeiten anlässlich des Mapuche-Neujahrs. In der Hütte sitzen Kinder und Erwachsene um eine Feuerstelle, in Töpfen und Kesseln köcheln Pferdefleisch und Kartoffeln. Ein paar Lehrerinnen formen außerdem Unmengen an Teig zu „sopapillas“ – kleinen, flachen Weißbroten, die in heißem Fett gebacken werden. Nach dem Essen will Lehrer Cristian von den Schülern wissen, wie sie zu Hause „We Tripantu“ feiern. Die Antworten kommen nur zögerlich, es wird getuschelt und gelacht. Irgendwo klingelt ein Handy. Eine Lehrerin in vollem Mapuche-Ornat mahnt mehr Respekt an. Später erzählen die Kinder dann doch – vom Reinigungsritual frühmorgens in See, von den Festessen, von den Geschichten der Alten. Auch Hausmeister Guillermo steuert eine Erinnerung bei, während Becher mit Mate-Tee kreisen.
Trañi Trañi scheint sich in einer Zwischenwelt zu bewegen von Moderne und Tradition, von Möglichkeit und Mangel. Es gibt Breitband-Internet und eine Radio-AG, aber die Klassenräume sind karg und um die Toiletten zu betreten, braucht man einen starken Magen. „Das Geld reicht einfach nicht“, sagt Roberto Mansilla bei seinem prüfenden Rundgang durch die Schule und den angrenzenden Lehrgarten. Mit dem Fuß kickt er gegen eine Wasserpumpe, die in trüber Brühe vor sich herdümpelt und wenig vertrauenerweckend aussieht. In Chile gilt das Prinzip, dass die Eltern für die Bildung ihrer Kinder Sorge tragen, nicht der Staat. Doch ein Schulgeld könnten sich die Familien hier gar nicht leisten, der Unterricht in Trañi Trañi ist kostenfrei. Von außen ist ebenfalls wenig Unterstützung zu erwarten. Terre des hommes hat mit Sachspenden geholfen, aber ansonsten ist das wirtschaftlich prosperierende Chile von der Landkarte internationaler Hilfsorganisationen weitgehend verschwunden. Vom viel gelobten Fortschritt des Landes profitiert freilich nur ein Teil der Bevölkerung, dem anderen bleiben die Früchte des Erfolgs verwehrt. Die Kinder von Trañi Trañi werden mit viel Glück anschließend ein technisches Lyzeum besuchen. Wer besonders viel Glück hat, geht eines Tages vielleicht sogar zur Uni. Acht Schüler haben das bislang geschafft.