Eigentlich möchte ich hier nicht schon wieder von Stranderlebnissen erzählen. Es könnte so der falsche Eindruck aufkommen, ich befände mich auf einer Urlaubsreise. Aber erstens ist Wochenende. Zweitens gibt es neben dem Strand – mal sehr, sehr vorsichtig formuliert – nicht viele andere Freizeitmöglichkeiten in Monrovia. Und drittens ist der Strand ein magischer Ort.
Ich sage das jetzt nicht, weil sich dort vor ein paar Tagen eine Frau neben mich gesetzt hat, die mir nach wenigen Minuten Gespräch ihre Liebe gestand. (Als ich ihr sagte: „Ach, komm, erzähl mir doch nichts“, lächelte sie und meinte: „Ich liebe auf jeden Fall Deine Augen und Deine Lippen. Gott liebt Dich ganz – und Gott ist in jedem von uns.“ Nun ja, irgendwann ist sie auch wieder gegangen. Hat sie Gott dabei mitgenommen oder bei mir gelassen? Ich weiß es nicht.)
Die Magie des Strandes geht vom Wasser aus.
Genau dort will ich an diesem Samstag aber eigentlich gar nicht rein. Ich fühle mich ein wenig unwohl: ein kleiner Infekt oder irgendwas Falsches gegessen, man weiß das hier nie ganz genau. Am Strand weht gelegentlich ein kühlender Wind, es ist nicht so stickig wie tagsüber in meinem Apartment. Ein bisschen daliegen, erholen, die Sonne genießen – darum bin ich hier. Sonst nichts.
Doch dann steht die ganze Bande vor mir, etwa ein Dutzend Jungs und Jugendliche. Ihr Rädelsführer – ich würde ihn so auf 15 schätzen – fordert: „Komm mit uns ins Wasser. Wir wollen den weißen Mann im Wasser sehen.“
Man muss dazu sagen, dass es in der Regel keinerlei bedrohlichen Klang hat, wenn einen jemand hier als „weißer Mann“ bezeichnet. Liberia hat keine Geschichte der kolonialen Unterdrückung durch Weiße. Der Staat wurde vielmehr von freigelassenen Sklaven aus Amerika gegründet, die eine Oberschicht bildeten, die wiederum die Menschen der eigentlich dort lebenden Stämme lange nicht an der Macht beteiligte. Weißen kann man im Grunde nur vorwerfen, mit der Oberschicht Geschäfte gemacht zu haben, von denen die Unterschicht nichts hatte.
Es gibt also keine schlechten Gefühle gegenüber Europäern. Eher Neugier. Vor allem, wenn man womöglich noch nicht so oft einen schwimmen sehen hat.
„Nun los, komm schon“, sagt der Rädelsführer. Ich zögere noch. Dann schreit ein kleiner Junge: „Ich weiß es, weiße Männer haben Angst vor Fischen.“ Großes Gelächter. Nun fühle ich mich herausgefordert. Nicht etwa, weil sie sich über mich lustig machen. Ach was, das ist mir doch egal! Nein, als Heinz-Kühn-Stipendiat des Landes Nordrhein-Westfalen sehe ich mich an dieser Stelle vielmehr auf heilige Art und Weise verpflichtet, jedes Entstehen rassischer Vorurteile bereits im Keim zu ersticken. Angst vor Fischen? Ist ja lächerlich!
Also ab in die Fluten. Ob man so einen Weißen wohl auch untertauchen darf oder in eine Welle schubsen? Ich sehe das Zögern in einigen Gesichtern, bis endlich einer sich über diee Bedenken hinwegsetzt, einen Arm um mich klemmt – und mich mit in eine Welle nimmt. Jetzt ist die Schlacht eröffnet: jeder gegen jeden, aber auch einer für alle, alle für einen. Alle gegen das Meer – und zugleich mit ihm.
Das Meer wäscht für einige Minuten alle Unterschiede von denen ab, die in ihm sind. Die Welle ist für den Schwarzen wie den Weißen, für den Armen wie den Reichen genauso schön. Sie schlägt aber auch jedem, der nicht aufpasst oder hoch genug springt, genauso ins Gesicht. Wer Wasser verschluckt, hat Salzgeschmack im Mund. Wem die Badehose verrutscht, der steht mit verrutschter Badehose da. Es ist sowieso eine illustre Mischung hier: einige tragen Unterhosen, andere gehen mit kompletter Fußballmontur inklusive Trikot ins Wasser, wieder andere mit Jeans. Einige, denen man zu Hause vielleicht gesagt hat, sie sollten sich gefälligst nicht noch die letzte Hose ruinieren, ziehen sich rasch aus, bevor sie ins Meer rennen. Im Wasser ist alles egal.
Vielleicht ist es aber auch gar nicht das Meer, das die Unterschiede verschwinden lässt, denke ich, als ich irgendwann nach Hause gehe – nachdem ich (so in der Art) den besten Kindergeburtstags-Nachmittag hatte, seit ich 10 Jahre alt war. Vielleicht geht es einfach darum, dass man etwas gemeinsam macht.
Die hohen Temperaturen hin oder her, ich sollte die Jungs einfach mal fragen, ob sie mich am Strand mit Fußball spielen lassen.