Chinesisches Abitur: In Prüfung von Soldaten bewacht

Die jährliche Abschlussprüfung (Gaokao) ist für chinesische Schüler die Voraussetzung für einen Studienplatz. Doch schon im 7. Jahrhundert entschied die Keju-Massenprüfung über Auf- und Abstieg in der chinesischen Gesellschaft. Was die beiden Systeme gemein haben.

Sie sitzen an den kleinen zerkratzen Holztischen, beugen sich über ihre Hefte und schreiben hastig auf, was ihre Lehrerin ihnen diktiert. Die Tafel ist eng beschrieben, mit physikalischen Formeln und einigen Merksätzen. Die Grundschulkinder haben Ferien – und sind doch in der Schule.

Sie sind gekommen, trotz Sonnenschein und angenehmen Temperaturen, um für ihre Abschlussprüfung zu pauken. Mit dem National College Entrance Exam (NCEE) oder auch Gaokao (高考 ) qualifizieren sich die besten Schüler am Ende der 12. Klasse für ein Studium an einer Hochschule. Auch wenn das noch weit entfernt scheint, wollen die Eltern der hier schwitzenden Acht- und Neunjährigen nicht, dass die Schüler unnötig Zeit durchs Spielen verlieren. Schließlich geht es um ihre Zukunft — da zählt jeder Tag.

万般皆下品, 唯有读书高

All pursuits are of low value. Only studying the books is high.

Der Bildungshype, der chinesische Familien in Dauerstreß versetzt, hat lange Tradition. Bereits während der Tangdynastie (618–907) setze sich das Keju-System (科举 ) durch, mit dessen Hilfe bis 1905 die Beamten für den kaiserlichen Hof ausgewählt wurden. Knapp 1300 Jahre war dieses Zugangstor zu einer gesicherten Zukunft im Dienste des chinesischen Kaisers. Wer die Prüfung bestand, wurde Premierminister, Governeur einer Provinz oder Leiter eines Ministeriums. Dies bedeutete nicht nur ein gesichertes Einkommen und Macht, sondern auch Prestige und Ansehen für die Familie und Nachkommen.

Getestet wurde neben Politik auch Poesie und der Konfuzianismus. Die Bewerber mussten ein dreistufiges System durchlaufen. Auf eine Prüfung in der eigenen Region folgte eine auf Provinzeben und später eine am kaiserlichen Hof, die wiederum auf zwei Prüfungen aufgeteilt war. Die beiden ersten Prüfungen dauerten neun Tage und neun Nächte. Die letzte so lange wie drei Kerzen brennen, rund einen Tag.

Das Keju-System sollte dazu beitragen, die Privilegien der aristokratischen Familien zu reduzieren, die die kaiserliche Autokratie gefährdeten

Die Prüfung konnte jeder absolvieren, ob Sohn eines Ministers, Handwerkers oder eines Bauern. Das Keju-System sollte die zunehmende Macht der aristokratischen Familien reduzieren, die ihre Positionen ab Hof vererbten und damit die kaiserliche Autokratie gefährdeten. Für einfache Menschen war das die Möglichkeit, der Armut zu entfliehen und der Familie Ruhm und Reichtum zu ermöglichen.

Heute übernimmt die Gaokao-Prüfung eine vergleichbare Funktion: Jeder kann daran teilnehmen und jeder dadurch den sozialen Aufstieg schaffen. Zudem ist sie nicht nur wie das Keju-System zentral organisiert und für alle zugänglich, sondern auch durch den Staat implementiert, stark standardisiert und kontrolliert.

Die Gaokao-Prüfung findet jedes Jahr am 6., 7. und 8. Juni statt. Anhand der Punkte können sich die Absolventen an verschiedenen Universitäten immatrikulieren. Persönlicher Werdegang oder Engagement innerhalb oder außerhalb der Schule bleiben ansonsten unbeachtet. Die National Education Examination Authority (NEEA) ist für Entwicklung, Durchführung und Auswertung der Gaokao-Prüfungen zuständig.

Wer im Internet nach Gaokao sucht, bekommt sofort die besten Ergebnisse der einzelnen Provinzen angezeigt. Rechts unten sieht man die besten Schüler landesweit.

Nach Einführung in den 1980er Jahren wurde die Gaokao-Prüfung mehrfach überarbeitet. Mittlerweile gilt das 3+X-System. Alle werden in den Fächern Chinesisch, Mathematik und einer Fremdsprache geprüft. Schüler mit einem künstlerischen Schwerpunkt bearbeiten zudem politisch-historische Aufgaben, die übrigen chemisch-physikalische. Die Tests bestehen aus wahr/falsch- und Multiple-Choice-Aufgaben, Lückentexten und Essays.

Es gibt vier Arten von Universitäten. Die nationalen Hochschulen, die als die besten des Landes gelten, die provinzialen, öffentlichen Universitäten und die lokalen, öffentlichen Universitäten, sowieo die zwei- bis dreijährigen Hochschulen.

Die Ersteller der Prüfungsfragen halten sich während ihrer Arbeit an einem geheimen Ort auf — ohne Kontakt zur Außenwelt.

Wie heute, war bereits im 7. Jahrhundert die Angst vor Schummlereien groß. Deshalb wurden die Prüflinge in gefängnisartige Gebäude gesperrt und bewacht von Soldaten. Sie wurden durchsucht, anonym bewertet und im Falle eines Betruges schwer bestraft.

Beim Gaokao müssen sich die Ersteller der Prüfungsfragen während ihrer Arbeit an einem geheimen Ort aufhalten und dürfen keinen Kontakt zu ihren Familien oder zur Außenwelt haben. Gedruckt werden die Aufgaben von Gefängnisinsassen in Hochsicherheitstrakten, die entweder lebenslänglich einsitzen oder zum Tode verurteilt wurden.

Wird ein Schummelversuch entdeckt, darf die Prüfung nicht wiederholt werden

Die Türen und Fenster der Klassenräume, in denen die Schüler die Abschlussprüfung schreiben, sind bis zum Einlass versiegelt. Die Sitzplätze der Schüler werden zufällig zugewiesen. Die Prüflinge, die nebeneinander sitzen, erhalten unterschiedliche Antwortzettel. Wird ein Schummelversuch entdeckt, darf die Prüfung lebenslang nicht wiederholt werden. Prüfer verlieren ihren Job.

Die größte Gemeinsamkeit der Prüfungen ist wohl aber die Hoffnung der Teilnehmer auf eine bessere Zukunft. Wie bereits im 7. Jahrhundert nehmen die Schüler auch noch heute jahrelange Strapazen auf sich und lernen von klein auf für diesen einen Test. Immer in der Hoffnung, am Ende ausreichend Punkte gesammelt zu haben und zu ihren Eltern sagen zu können: 我考上了 — ich habe es geschafft.