In den vergangenen Jahren wurde das chinesische Bildungssystem stark reformiert. Jürgen Henze, Professor für Vergleichende Erziehungswissenschaften an der HU Berlin, erklärt im Interview, wie es sich verändert hat. An die Ergebnisse bei PISA, glaubt er, werden deutsche Schüler nie herankommen.
Deuber: Herr Henze, Sie beschäftigen sich mit der Entwicklungsdynamik des chinesischen Bildungswesens: Was hat sich in den vergangenen Jahren verändert?
Henze: Es gibt immer mehr Versuche, das System aufzubrechen. In Städten wie Shanghai, Beijing oder Nanjing gibt Grundschulen mit Projektunterricht, eigenen Theatern und Musikunterricht. Aber das ist bisher kaum signifikant. Es sind kleine Bächlein, die sich durch das System schlängeln. Aber man mit diesem System aber auch fair umgehen. Es gibt viele Punkte, die sie kritisieren können, aber in den vergangenen 20 Jahren stand es enorm unter Druck und trotzdem ist das Bildungssystem permanent reformiert worden.
Deuber: Wie lernen chinesische Schüler?
Henze: In China herrscht eine „Aufnahme-Kultur“. Schüler denken: Wieso soll ich als Schüler selbst die Antwort herausfinden, wenn der Lehrer sie schon weiß und ich ihn direkt fragen kann? Sie erwarten, dass der Lehrer das Wissen über ihnen auskippt. Sie wollen keinen zweistündigen Diskurs darüber.
Deuber: Sind die Probleme des Systems in China bekannt?
Henze: Niemand muss Eltern in China sagen, welche Folgen der Druck für Ihre Kinder hat. Überarbeitung, Überbeanspruchung, Kurzsichtigkeit und psychisch Probleme: Das wissen sie alles selbst, können es aber nicht ändern.
Deuber: Wieso nicht?
Henze: Die Eltern wollen natürlich auch, dass ihre Kinder glücklich sind. Sie wollen ein anderes Leben für sie. Aber als Eltern muss man auch einen hohen Druck aushalten. Denn wenn ihr Nachbar sein Kind zum Ballett, Klavier und Malunterricht schickt, denken sie natürlich automatisch, dass sie es eben so machen müssen. Sonst hat ihr eigenes Kind keine Chance. Dass die Kinder dafür durch eine so harte Zeit gehen müssen, akzeptieren sie. Ohne gute Noten der Kinder schaut die Gesellschaft auf Familien herab.
Deuber: Viele Eltern schicken ihre Kinder mittlerweile ins Ausland. Ist das eine Folge davon?
Henze: Die Eltern erkennen, dass es keinen Wandel gibt. Also schicken sie die Kinder in andere Schulsysteme und später dort auch auf eine Universität im Ausland, wo sie bessere Chancen haben. Immer mehr Eltern umgehen das System auf diese Weise.
Deuber: Chinesische Schüler sind im PISA-Test seit Jahren sehr erfolgreich. Es kann nicht alles falsch sein, in diesem System.
Henze: Das sind rein nummerische Ergebnisse. Es liegt im Moment im Trend als Ministerium nach China zu fahren und dort vom Erfolg lernen zu wollen. Das ist aber blanker Unsinn. Es gibt sozial kulturelle Gründe für den Erfolg, die im Westen nie existieren werden. Eine deutsche Familie wird nie so einen Druck auf sein Kind ausüben können, wie eine chinesische. Sie würde es auch nicht wollen.
Deuber: Die Ergebnisse in Mathe sind außergewöhnlich!
Henze: Mathematik hat in allen Schulen in Shanghai einen extrem hohen Stellenwert. Bereits in frühen Jahren beginnen die Schüler, sich auf den mathematischen Teil der Abschlussprüfung vorzubereiten. Es ist zudem ein wichtiges Mittel zum Aussortieren von Schülern.
Deuber: Viele Experten sagen, chinesische Schülern fehlt die Kreativität. Stimmt das?
Henze: Das sind Pauschalurteile. Chinesen sind im pragmatischen Umgang mit Problemen sehr kreativ. Sie lösen sie sehr schnell. Nehmen wir zum Beispiel eine Baustelle in China. Sie wäre für jede Baustellenaufsicht in Deutschland ein Horror. Wir haben unsere Vorstellungen von Ordnung und Sicherheit. Die Chinesen finden dort hingegen Wege, die schnell und effektiv funktionieren — und auch damit kann man Hochhäuser bauen.
Deuber: Wird China das prüfungsorientiere System des Gaokao irgendwann abschaffen?
Henze: Didaktische Impulse aus dem Westen werden verstärkt aufgenommen. Es gibt neue Wissenschaftsdisziplinen und Reformen im Schulsystem. Aber die chinesische Kulturgeschichte ist eine Geschichte der ständigen Hierarchisierung. Es gibt in China keinen Raum für zwei Menschen, die gleich sind. Gaokao ist ein hoch selektiver Prozess. Wenn es ihn nicht mehr gäbe, würde es einen anderen geben. Denn mit diesem Mechanismus werden die Lebenschancen in China verteilt.
Von Lea Deuber