Auf weitere neun Jahre

Es ist ein ungewohntes Bild, das sich den Menschen an diesem Sonntag in La Paz bietet. Die stinkenden Metallkarawanen, die sich sonst geräuschvoll Tag und Nacht durch ihre Stadt schieben, sind verschwunden. „Es ist der Tag des Zufußgehens“, hatte mir der pensionierte Lehrer Héctor Valdez schon vor ein paar Tagen lächelnd angekündigt. Und tatsächlich ist die ganze Stadt  auf den Beinen. Mit Regenschirmen spazieren die Menschen vergnügt auf den Straßen,  die Sonne brennt an diesem 12. Oktober erbarmungslos vom Himmel. Der Frühling hat nun auch das auf knapp 4.000 Metern liegende La Paz erreicht.

VZ8A3277Für einen Tag herrscht Ausnahmezustand in ganz Bolivien. An diesem Sonntag wählen knapp 6,3 Millionen Bolivianer ein neues Parlament und einen neuen Präsidenten. Da jedem die Wahl gesetzlich vorgeschrieben ist, ist die Wahlbeteiligung beneidenswert hoch und lag zuletzt bei über 90 Prozent. Wer nicht wählt, muss mit Konsequenzen rechnen: Jegliche Transaktionen in Banken und öffentlichen Einrichtungen sind für die kommenden drei Monate untersagt. In einem Land, das kein flächendeckendes Postsystem hat, bedeutet das, dass Rechnungen für Wasser, Strom und Gas nicht beglichen und damit abgestellt werden können. Zudem droht dem Nichtwähler eine Geldstrafe und er wird von den Wählerlisten gestrichen. Für die nächste Wahl muss er sich dann neu registrieren.

Und noch mehr Regeln

Doch damit nicht genug der Regeln: Am gesamten Wahltag ist es nicht erlaubt zu reisen. Der öffentliche Verkehr kommt im ganzen Land beinahe vollständig zum Erliegen. Die Minibusse und Trufis, die Linientaxen, die sonst das Stadtbild von La Paz prägen, dürfen von 0 bis 24 Uhr nicht fahren. Nur wenige Taxen haben eine Sonderlizenz, die sie für 200 Bolivianos, etwa 18 Euro, schon vor Monaten beantragen konnten. Das Gleiche gilt für private Autos. Nur wer nachweisen kann, dass er gehbehindert ist, durfte eine Genehmigung beantragen. Wer ohne fährt, dem drohen hohe Geldbußen. „Wir dürfen nicht reisen, weil es in der Vergangenheit immer wieder Massenbewegungen gab. Die Leute haben einfach an mehreren Orten gewählt“, erzählt Héctor. „Da gab es dann am Ende mehr Stimmen als Menschen.“ Teilweise hätten sogar Peruaner in Bolivien gewählt. Deshalb ist an den Grenzen auch nur eine eingeschränkte Ein- und Ausreise möglich.

Die meisten Bolivianer nehmen es mit Humor, so wie der 40-jährige Aldo Arana. „Es ist ein besonderer Tag heute. Wir genießen ihn mit unseren Familien – das ist Tradition“, erzählt er. „Aber wir entscheiden heute auch, ob die nächsten fünf Jahre gut oder schlecht werden.“ Bernardo, der seinen Nachnamen nicht sagen will, sieht das anders: „Ein Land, in dem es keine Wahlfreiheit gibt und in dem man kein Auto fahren darf, ist doch kein demokratisches Land“, schimpft der 56-jährige.

VZ8A3353Tatsächlich gibt es weitere Einschränkungen. Schon seit Freitag bis einschließlich Sonntag Abend dürfen die Bolivianer keinen Alkohol verkaufen, kaufen geschweige denn konsumieren –  in der Öffentlichkeit und privat. Die Menschen sollen einen klaren Kopf für die Wahl haben, lautet die Begründung. In den Supermärkten sind die Regale mit Bier und Spirituosen zugehängt, in den Bars patrouilliert die Polizei. Inzwischen ist es Tradition geworden, am Wahlwochenende  Freunde und Familie einzuladen und ausgelassene Hauspartys zu feiern. Nur erwischen lassen sollte man sich nicht, sonst droht ein saftiges Bußgeld.

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Blaue Daumen im ganzen Land

Vor der Turnhalle der französischen Schule im Stadtteil Achumani wird an improvisierten Buden frittierte Schweinehaut im Brötchen und Zuckerwatte verkauft. In der Turnhalle wird seit acht Uhr gewählt. Trotz der Menschenmassen läuft alles ruhig und geordnet ab. „Die Menschen haben sich inzwischen an die Demokratie gewöhnt“, erklärt Héctor. „Bei den vergangenen Wahlen waren sie noch sehr aufgeregt. Dann gab es auch schon mal Auseinandersetzungen“. An diesem Tag wird es jedoch friedlich bleiben. In der Turnhalle sind viele kleine Wahltische aufgebaut. Jeder Wähler muss seinen Ausweis vorzeigen, der  mit den hinterlegten Daten und Foto verglichen wird. Der Wahlzettel ist ein großformatiges Plakat, auf dem alle fünf Parteien mit den Namen und Fotos ihrer Kandidaten aufgeführt sind. Nach der Stimmenabgabe erhält der Wähler eine Karte, die ihn in den kommenden drei Monaten als Wähler ausweist. Mit einer Unterschrift und einem Daumenabdruck bestätigt man deren Erhalt. Früher musste jeder seinen kleinen Finger in ein Tintenfass halten, um so sicherzustellen, dass die Menschen nicht noch in anderen Wahllokalen wählen. Heute löst sich die blaue Farbe schneller ab.

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An diesem Tag sind die Wahllokale noch bis 16 Uhr geöffnet, für 20 Uhr wird die erste Hochrechnung erwartet. Gegen 19 Uhr mache ich mich auf den Weg Richtung Innenstadt. Am Abend soll dort Morales auf dem Balkon des Präsidentenpalastes erscheinen, um mit seinen Anhängern den Wahlsieg zu feiern. Ich habe Glück, nach nur wenigen Minuten hält ein Taxi. Doch der Fahrer verlangt 50 Bolivianos, rund sechs Euro, fast das Doppelte des regulären Preises. Ich winke lächelnd ab und mache mich schon einmal zu Fuß auf den Weg Richtung Innenstadt. Doch nirgendwo gibt es ein freies Taxi. An jeder Straßenkreuzung steht eine Handvoll Leute, die verzweifelt die Hände in die Höhe strecken. So spaziere ich schon über eine Stunde, bis ich schließlich doch noch Glück habe. Kurz vor mir steigen Fahrgäste aus und für den horrenden Preis von 50 Bolivianos kann ich den Fahrer doch noch überreden, mich in die Stadt zu bringen.

Que viva, Bolivia!

VZ8A3471Vor dem Präsidentenpalast wiegt sich im Takt der Musik ein Fahnenmeer aus Schwarz, Blau und Weiß – den Farben der Regierungspartei MAS. Aus überdimensionalen Lautsprechern tönt „Hebt die Hände, wenn ihr für Evo seid…wir alle sind Evo“. Immer wieder gibt es Sprechchöre, die nach dem Präsidenten rufen. Gegen 22 Uhr ist es dann soweit: Unter großem Beifall betritt Evo Morales den Balkon, gefolgt von seinem Vizepräsidenten Álvaro García Linera und anderen Mitstreitern. Jetzt kennt die Masse  kein Halten mehr. Die Menschen tanzen und rufen: „Mit Evo und Alvaro geht es uns gut!“Unter dem tosendem Applaus seiner Anhänger erklärt Morales sich zum Wahlsieger und widmet seine Wiederwahl „allen Völkern der Erde, die gegen den Imperialismus kämpfen“. Er bedankt sich für die vergangenen neun Jahre und verspricht, den cambio in den kommenden neun Jahren fortzuführen. Nach einer kurzen Pause verbessert er sich lächelnd: in den kommenden fünf Jahren. Die Opposition hatte bereits im Wahlkampf immer wieder den Verdacht geäußert, Morales könne zu wiederholtem Mal die Verfassung ändern, so dass er auch 2020 noch einmal kandidieren kann.

VZ8A3499Doch sein größter Herausforderer, der konservative Unternehmer Samuel Doria Medina, der den Hochrechnungen zufolge etwa 25 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte, erklärt noch am gleichen Abend, er werde die Opposition anführen und eine Verfassungsreform für eine weitere Wiederwahl von Morales blockieren. Der christdemokratische Ex-Präsident Jorge Quiroga erhielt voraussichtlich neun Prozent der Stimmen, der linke Ex-Bürgermeister von La Paz, Juan del Granado, sowie der indigene Kandidat der Grünen Partei, Fernando Vargas, ebenso drei Prozent.

Die Wahlen verliefen nach Angaben der Wahlbehörden ohne größere Zwischenfälle. Knapp 1300 Menschen wurden vorübergehend festgenommen, weil sie das Alkoholverbot oder andere Vorschriften des Wahltags nicht eingehalten haben. Vor dem Präsidentenpalast leeren sich schon gegen 23 Uhr die Reihen. Der harte Kern feiert noch ausgelassen bis in die frühen Morgenstunden.