Alfredo Topete sitzt am Steuer seines Geländewagens und versucht mit konzentriertem Blick eine Orange zu schälen, während wir die Landstraße von Guadalajara aus Richtung Pazifikküste rasen. Am Rückspiegel baumelt ein Anhänger mit einem Kruzifix. Egal, wem ich in Guadalajara davon erzählt habe, dass ich nach Mixtlán fahren will, niemand konnte etwas mit dem Namen anfangen. Der pensionierte Arzt Alfredo Topete ist in dem kleinen Dorf in der Sierra Occidental aufgewachsen. Wie viele ist er schon als Jugendlicher dort weggegangen. Wie viele kommt er aber auch gerne dorthin zurück. Seit Jahren engagiert er sich dort in der Partei „Movimiento Ciudadano“. Das Rennen um den Posten des Bürgermeisters vor ein paar Jahren hat er zwar verloren, aber er ist zuversichtlich, dass es bei der nächsten Wahl klappt. Die Unzufriedenheit der Mexikaner mit der amtierenden Regierung ist so groß wie lange nicht mehr.
Die Sonne ist gerade untergegangen, als wir in Mixtlán ankommen. Die Straßen sind leer und nur spärlich beleuchtet. Am Rand der zentralen Plaza warten Taco-Verkäuferinnen vergeblich auf Kunden. Ein paar ältere Herren sitzen vor einer Kneipe und vertreiben sich die Zeit mit Domino. Kinder spielen Ballerspiele auf zwei Spielautomaten, die unter den Arkaden der angrenzenden Gebäude aufgebaut sind. Außer ein wenig Landwirtschaft gibt es hier nicht viel Arbeit, sagt Alfredo Topete. Manche pendeln in die nächstgrößere Stadt, um dort auf dem Bau zu arbeiten. Die meisten Menschen hier aber leben von dem Geld, das ihnen ihre Verwandten aus den USA schicken. In den letzten Jahrzehnten sei das Dorf um etwa ein fünftel geschrumpft. Vor allem die jungen Menschen gehen hier weg, entweder in die nächste große Stadt oder eben nach Norden, in die USA.
Jeder hier mit dem ich spreche hat zehn, zwanzig, manchmal vierzig Jahre in den USA gelebt und gearbeitet, oder er hat Familie dort. Efraín González Rubio ist bereits 1958 in die USA ausgewandert. Damals war er siebzehn. Sein Vater wartete da bereits in Kalifornien auf ihn. Der Vater arbeitete auf dem Bau und sparte das Geld für die Familie in Mixtlán. Die lebte auf einem kleinen Bauernhof außerhalb des Dorfes, aber das Geld, das mit der Landwirtschaft zu verdienen war, reichte kaum zum Überleben, sagt Efraín. Mehrmals war der Vater von der Migra, wie die Mexikaner die US-Einwanderungsbehörde nennen, erwischt und abgeschoben worden. Aber dann schaffte er es, eine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis zu bekommen und sogar seinen Sohn nachzuholen. Damals war das alles einfacher als heute, erzählt Efraín: „Wenn die Migra meinen Vater erwischt und abgeschoben hat, war er schon am nächsten Tag wieder drüben.“ Efraín machte den Fehler, nicht lange genug in den USA zu bleiben. Damit erlosch sein Anspruch auf eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung. Aber nach ein paar Jahren zu Hause in Mixtlán, entschloss er sich wieder in die USA zu gehen, um dort zu arbeiten – ohne Papiere, für zweiundzwanzig Jahre. Mit dem Geld, das er dort verdiente, konnte er sich und seiner Familie in Mixtlán ein wenig Land kaufen, um Rinder zu züchten und Mais und Bohnen anzubauen.
Vor 14 Jahren ist der heute Dreiundsiebzigjährige in seinen Geburtsort Mixtlán zurückgekehrt, um hier seinen Lebensabend zu verbringen. „Wenn du alt bist, dann wollen sie dich in den USA nicht mehr weil du dann zu nichts mehr nütze bist.“ Vor allem aber habe er das Leben auf dem Land vermisst. Seine Mutter, Söhne und Töchter sind in den USA geblieben. Viel habe sich in Mixtlán in den letzten fünfzig Jahren nicht verändert, sagt Efraín: „Die Straßen und die Plaza haben sie erneuert, aber das Dorf wächst ja nicht viel, weil so viele Leute hier in die USA auswandern.“