Eine Schicht in der Nachrichtenredaktion

– oder: Heute keine Kulturredaktion, sondern endlich „echter Jornalismo“

Der Tag in der Nachrichtenredaktion beginnt früh. Wir treffen uns um 7 Uhr. Während die Produktion nach möglichen Schlagzeilen sucht, schminken sich die Reporterinnen, die „auf die Straße“ gehen werden. Im Beitrag zu sehen sind sie später nicht.

Es wird in verschiedenen Schichten gearbeitet. Die erste Schicht verlässt die Redaktion um 8 Uhr, um zwei Beiträge für die Nachrichtensendung um 12 Uhr zu produzieren, in wenigen Stunden von der Idee zum fertigen Film.

Die heutige Mission ist es, der Beschwerde einer Bewohnerin nachzugehen. In ihrer Kleinstadt funktioniere seit der letzten Wahl nichts mehr. Die städtische Apotheke sei ohne Medikamente, fast keiner der 11 Schulbusse fahre mehr, der städtische Kindergarten sei geschlossen, Gehälter und Renten würden nicht ausgezahlt, die Lehrer seien seit Monaten im Streik, Unterricht habe deshalb bisher erst an 90 Tagen im Jahr stattgefunden und der Bürgermeister verdiene fast so viel, wie der Campina Grandes, eine Stadt, die mit ihren 400.000 Einwohnern 40 Mal so groß ist wie ihre Heimat Sao Sebastiao de La de Roca.

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Kamera- und Tonmänner

Unsere erste Station führt an der Garage der Redaktionsautos vorbei zu dem Raum, in dem sich Kamera- und Tonmänner entspannen und darauf warten, zur Arbeit gerufen zu werden. Der Fernseher ist an, es läuft ein Privatsender mit Fußball. Bei einem zweiten Frühstück erfahre ich von Roberta, der Reporterin die ich heute begleite, von ihrem zweiten Job. Nach ihrer Schicht in der Redaktion von 7 bis 13 Uhr arbeitet sie in der Univerwaltung von 15 bis 22 Uhr.

Während ich bei einem Blick auf die Uhr schon langsam nervös werde, sind die anderen während der halbstündigen Fahrt völlig entspannt.

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Ungläubig gucke ich aus dem Fenster. Von Paraiba nach Rio hätten wir mit dem Auto mindestens 30 Stunden gebraucht. Der große Stolz von Sao Sebastiao de la Roca ist ein kleiner Nachbau der berühmten Statue in Rio erklären meine Begleiter lachend.

Nach kurzer Zeit kommt die Urheberin der Beschwerdeemail an, ihr Auto tapeziert mit Wahlwerbung des Verlierers der letzten Bürgermeisterwahl. Die Frage, ob sie schon mal irgendwelche Verbindungen zur Politik der Stadt gehabt habe, verneint sie resolut.

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Schneller als Roberta erklären kann, dass sie für alle Anschuldigungen unabhängige Zeugen braucht, treibt die Frau diverse Bekannte und Mitstreiter zusammen, die in den Klagechor einstimmen:

„Wie soll ich etwas kaufen, wenn meine Rente seit Monaten nicht kommt?“ fragt eine Rentnerin, außerdem müsse sie in die Nachbarstadt reisen, um ihre Diabetesmedikamente zu bekommen, ergänzt die andere. Ein Mann, der im Gesundheitsbereich arbeitet und sehr engagiert allen Beschwerden zustimmt, er ist offenbar ein guter Freund der Klägerin, gesellt sich zu der Runde. Eine weitere Frau in geblümter Bluse wird geholt, wir wissen nicht warum.

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Rentnerinnen

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Um etwas Klarheit in die verschiedenen Anschuldigungen zu bekommen, fahren wir die Stationen ab. Als erstes die städtische Apotheke, von außen nicht als solche zu erkennen. Der junge Mann im Inneren will uns nicht filmen lassen, seine Chefin sei schon längere Zeit im Urlaub und er nicht befugt. Wir erhaschen durch den Türspalt einen Blick auf die tatsächlich fast vollständig leeren Regale.

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die städtische Apotheke

Weiter geht es zur Garage der städtischen Busse, sie sollen die Beförderung von Schülern und Studenten sicherstellen. Unsere klagende Bürgerin folgt nicht nur emsig, sie ist immer schon vor uns da. Entrüstet wiederholt sie, seit der Wahl funktioniere nichts mehr. Von 11 städtischen Bussen seien 9 schon seit längerer Zeit außer Betrieb, eine Reparatur nicht absehbar.

„Da, da, da das ist der Zuständige für die Busse, dieser Typ da“ ruft sie erregt und deutet auf einen dünnen Mann, der mit seinem Motorrad vor der Busgarage anhält und hinter der Telefonzelle in Deckung geht. In einem kurzen Gespräch mit ihm erfahre ich, dass die Frau in der Vergangenheit bereits öfter Streit suchte und vor ein paar Tagen samt ihrem Mann handgreiflich wurde, bis schließlich die Polizei eingriff.

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Filmen ohne Drehgenehmigung

Eine Drehgenehmigung für die kaputten Busse in der Garage bekommen wir leider nicht, das Tor bleibt zu. Aber unsere emsige Begleiterin weiß sich zu helfen. Ehe sich unser Kameramann versieht, hat sie ihn in das Haus der Nachbarin geschleust, wo er kurze Zeit später auf einem Stuhl stehend über die Mauer filmt.

Wir beschließen zur Gesundheitsabteilung der Stadtverwaltung zu gehen, um die Vorwürfe weiter zu beleuchten. Zum Glück ist die Stadt sehr klein. Alle wichtigen Stellen sind an der Hauptstraße zu finden. Wie in den meisten Städten dieser Region, lebt ein Großteil der Bewohner auf Bauernhöfen außerhalb. Zeit um Termine mit Bürgermeister und anderen Verantwortlichen vorher zu vereinbaren ist bei diesem Arbeitsrhythmus nicht.

„Hallo ich möchte die Ergebnisse meiner Untersuchung abholen. Was? Die sind noch nicht da? Ich warte schon seit Wochen auf meine Ergebnisse!“, klagt die Frau in der geblümten Bluse und schaut uns triumphieren an, kaum betreten wir die Gesundheitsverwaltung, ihr Einsatz. Unsere Kontaktfrau steht auch schon wieder vor der Tür.

In Gesprächen mit der Verantwortlichen für den Bereich Gesundheit und dem Verantwortlichen für den Bereich Bildung erfahren wir, dass es tatsächlich Rückstände in Gehalts- und Rentenzahlungen gibt, aber nur von einem Monat. Es fehlen auch Gelder für den Kauf von Medikamenten in der städtischen Apotheke (eine Art Versorgungsstation, in der einige Medikamente umsonst verteilt werden, was eine gesundheitliche Grundversorgung sichern soll).

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Treffen mit der Stadtverwaltung

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Zum Abschied bekommen wir von der Gesundheitssekretärin noch einige Dokumente ausgehändigt die bezeugen, dass sowohl die Frau, die sich an die Redaktion wandte, als auch ihr junger Begleiter vor der Wahl für den Bürgermeister arbeiteten und zwar genau in den Bereichen, die sie jetzt kritisieren. Im Wahlkampf unterstützten sie dann offenbar den anderen Kandidaten. Nachdem sie nach der Wiederwahl gekündigt wurden, haben sie mit Beschwerden über die Politik eine neue Beschäftigung gefunden.

Die beschriebenen Probleme in der Grundversorgung sind zwar unschön, leider aber in brasilianischen Kleinstädten dieser Region nicht ungewöhnlich, erklärt Roberta. Um keinen halben Arbeitstag zu verschenken, wird sie später trotzdem einen Beitrag über Sao Jose machen, die politischen Verstrickungen bleiben dabei außen vor.

Auf dem Rückweg schickt Roberta den Off-Text für den Bericht schnell per Whatsapp in die Redaktion. Danach erklärt sie mir, es sei ihr Traum bei einem Interview ihren zukünftigen Mann zu treffen, mit ihren 24 Jahren sei sie längst für eine Hochzeit bereit.

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Busbahnhof Campina Grande

Auch bei unserem zweiten Beitrag an diesem Tag, der sich mit dem Thema: „Busfahrer klagen über zunehmende Überfälle auf Busse und drohen mit Streik“ beschäftigt, ein Klassiker in der Brasilianischen Nachrichtenwelt, wird Roberta ihren Traummann nicht finden.