Was genau die Mittelschicht ist, wird wohl eine Definitionsfrage bleiben. Über die man sich streiten muss. Fakt ist, dass sie Mittelschicht in Venezuela anders lebt als die deutsche. Und ich nun mit ihr lebe.
Sandra, ihr Mann Yorbis, und die kleine Mariel wohnen im Stadtteil La Limpia von Maracaibo. Limpia heißt sauber, was für die Wohnung zutrifft, auf den Stadtteil aber nicht.
Neonröhren beleuchten das Wohnzimmer, in dem man steht, sobald man die Wohnung betritt. Genutzt wird es nicht, denn die drei verbringen ihre Abende auf dem Bett vor den jeweiligen Fernsehern. Mariel muss am kleinen Tisch in der Küche zu Abend essen, Papa Yorbis ist Taxifahrer und bekommt das Abendessen von seiner Frau ans Bett gebracht.
Auch in Mariels Zimmer läuft der Fernseher, Disney-Zeichentrick auf maximaler Lautstärke. Ich darf die nächsten Nächte in ihrem Barbie-Bett schlafen, nebenan dröhnt die Klimaanlage, draußen die Nachbarn.
Doch dann: Kommt kein Wasser aus der Toilettenspülung im Mini-Bad nebenan. Wie peinlich! Daneben steht ein Eimer Wasser, der tuts auch. Ich schiebe den Duschvorhang zur Seite, auch hier steht ein riesiger Wasserbottich, groß wie eine Regentonne. Doch auch die ist so gut wie leer.
Aus dem Wasserhahn am Becken ist nicht ein Tropfen zu bekommen. Ich frage Sandra. Sie ist ratlos: „Das passiert manchmal. Danken wir unserem Präsidenten, der hat die Wasserwerke verstaatlicht.“
Ab morgen früh gibt es wieder Wasser. Dafür müssen wir aber alle um fünf Uhr aufstehen, damit die Kleine pünktlich in den Kindergarten kommt. Denn das Taxi vom Papa ist gleichzeitig das Familienauto, das die Mama zur Arbeit und mich in die Stadt bringt.
Die Zähne putze ich mir dann ohne Wasser – denn im Kühlschrank steht nur noch Orangensaft. Dass Sandra den Behälter mit Trinkwasser über Nacht immer ins Eisfach stellt, sehe ich erst am nächsten Morgen.