Eine der überraschendsten Erkenntnisse, die ich hier in Ruanda hatte, war, dass es extrem viele Startups gibt. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, frage ich mich, warum ich eigentlich überrascht war. Ich denke, Startups waren in meinem Kopf einfach mit Hippstern, komplizierter Technologie, dem Silicon Valley verknüpft. Dabei ist es total logisch, dass in einem Land wie Ruanda Startups entstehen. Es ist ein Entwicklungsland, das heißt, die Dinge entwickeln sich. Vieles, was es bei uns längst gibt, fehlt in Ruanda. Es gibt tausende Marktlücken, die alle noch besetzt werden wollen.
Bewusst geworden ist mir das hier schon öfter, wenn ich mit jungen Ruandern sprach. Sie erzählen mir von ihrer neuesten, genialen Idee und ich stehe staunend da und denke: „Ach stimmt, hier gibt es das noch nicht.“ Eine junge Marketing-Beauftragte etwa sagte mir, ihr Startup programmiere gerade ein Programm, das Uni-Professoren nutzen können, um Unterrichtsmaterialien für ihre Studierenden hochzuladen. Etwas, das von deutschen Unis längst nicht mehr wegzudenken ist. Ein Freund sagte mir, er wolle sich dafür einsetzen, dass Busse mit einer Rampe ausgestattet würden, sodass auch Rollstuhlfahrer mitfahren könnten. Dass es dieses Konzept in anderen Ländern bereits gibt, war ihm nicht bewusst.
Was wiederrum viel fortschrittlicher ist als in Deutschland, sind die Rahmenbedingungen, die die ruandische Regierung für junge Unternehmer geschaffen hat. Mehrere Leute hier erzählten mir, dass jeder Ruander heutzutage in der Schule ein Fach namens „Entrepreneurship“, also Unternehmertum hat. Dort geht es darum, wie man eine eigene Geschäftsidee entwickelt und umsetzt. Unter den Studierenden und Schul- bzw. Uniabsolventen, die ich hier kennengelernt habe, war kein einziger, der eine Festanstellung in einem etablierten Unternehmen anstrebt. Alle haben sie eigene Ideen, gründen eigene Firmen. Ein neues Unternehmen anzumelden, dauert wohl nur ein paar Stunden.
Eigentlich bin ich ja nach Ruanda gekommen, um herauszufinden, wie sehr ausländische Unternehmen, Staaten und NGOs das Land in Sachen Klimaschutz und erneuerbare Energien voranbringen. Dann kam ich während meiner Recherche aber doch auch mit zahlreichen, in Ruanda gegründeten Startups in Kontakt, die zum Teil geniale Ideen hatten. So traf ich den Gründer eines Startups, das Elektroschrott wiederverwendet. Ein paar junge Männer arbeiten für dieses Startup in einer Reperaturwerkstatt. Sie sammeln alte Handys, Laptops und Drucker ein und wann immer ein Kunde mit einem kaputten Gerät zu ihnen kommt, das repariert werden muss, nehmen sie so viele Ersatzteile wie möglich aus den Altgeräten.
Ein anderes Mal traf ich ein Startup von Programmierern, von denen keiner älter war als 24. Die Gruppe war gerade von Volkswagen entdeckt worden und hatte den Auftrag erhalten, eine App zu programmieren, mit der sich Carsharing koordinieren lässt. Die guten Ideen, die genau das umsetzen, woran es hier mangelt, so schien es mir, kommen von den Einheimischen. Sie sind es, die ihr Land wirklich voranbringen können. Doch so einfach ist es nicht.
Das wurde mir klar, als ich Henry begegnete. Henry ist der Gründer eines Unternehmens, das kleine, rollbare Kioske mit Solarzellen auf dem Dach baut und sie an lokale Agenten weitergibt. Die Agenten stellen sich mit ihrem Kiosk in ein Dorf oder Stadtviertel und verkaufen dort Strom, Wifi, Bildungsinhalte. Wer also mit seinem Handy an einem solchen Kiosk vorbeikommt, kann es aufladen, sich ins Internet einloggen und sich etwa Lexika herunterladen.
Henry ist Ruander, doch er floh 1996 nach seinem Schulabschluss in die USA. Lange Zeit dachte er, er werde und wolle niemals nach Afrika zurückkehren. Bis zur Finanzkrise 2008. „Ich sah, wie die amerikanische Wirtschaft zugrunde ging und wie die afrikanischen Wirtschaften wuchsen“, sagt Henry. „Da beschloss ich, wieder nach Ruanda zu gehen.“ Henry hat den jungen afrikanischen Gründern viele Jahre Lebenserfahrung und viele Jahre Leben in den USA voraus. Er strotzt nur so vor Selbstbewusstsein und scheint die Gesamtsituation zu überblicken.
„Es ist lächerlich, Berater aus dem Ausland nach Afrika zu bringen“, sagte mir Henry bei unserem Treffen zerknirscht. „Nur Afrikaner können afrikanische Probleme lösen. Aber die meiste Innovation hier wird trotzdem vom Ausland dominiert. Denn im Ausland kann man an Kapital kommen. Hier haben junge Firmen schon Schwierigkeiten, 10.000 Dollar aufzutreiben. Das wird Afrika noch wehtun.“ Natürlich, es gebe viele Startups mit interessanten Ideen, räumte Henry ein. Aber nicht alle diese Startups könnten wachsen, expandieren. „Ich denke, die afrikanischen Startups müssen sich alle irgendwann gegenseitig aufkaufen“, erklärte er. „Das ist gerade die beste Zeit, um ein Unternehmer in Afrika zu sein. Die Leute, die heute die Probleme lösen, werden die großen Unternehmer von morgen sein. Aber ein Unternehmen wird nicht zufällig groß.“
Henries Rede ließ mich nachdenklich werden. Es gibt viele Ideen und viele Ansätze hier in Ruanda. Tatsächlich sind aber alle großen, erfolgreichen Projekte, die ich mir hier angesehen habe, aus dem Ausland finanziert und meistens auch aus dem Ausland initiiert worden. Diese Erkenntnis widerspricht dem Vorurteil, das ich vor meiner Abreise gegenüber Entwicklungshilfe hatte, komplett. Oft hatte ich von Projekten gehört, bei denen „die weißen Männer nach Afrika gehen und versuchen, den Leuten ihren Lebensstil überzubraten“. Tatsächlich habe ich aber sehr viele Projekte gesehen, die von „weißen Männern“ (leider selten Frauen) geplant und finanziert und dann von „schwarzen Männern“ erfolgreich umgesetzt werden. Ob das auf Dauer gut ist, lässt sich sicherlich debattieren. Auf meine Recherche-Frage habe ich aber zumindest so etwas wie eine Antwort gefunden: Ausländische Unternehmen, Staaten und NGOs bringen Ruanda sehr stark voran. Damit ihre Projekte gelingen, müssen sie eng mit Einheimischen zusammenarbeiten, die ihr Land und seine Gepflogenheiten kennen. Ohne ausländische Hilfe scheint es momentan aber noch nicht zu gehen.