Ich schätze, einen Prinzen zu interviewen, ist nie ganz einfach. Wahrscheinlich muss man in der Regel ein hochoffizielles Gesuch verfassen, Empfehlungsschreiben diverser Fürsten und Freiherren beilegen (das Ganze mindestens auf Büttenpapier mit Goldrand), anschließend mehrere Monate banges Warten und Hoffen auf die Unwahrscheinlichkeit einer Audienz. Ich musste nichts dergleichen tun, aber den Prinzen von Bayern trifft man eben auch nicht auf Schloss Neuschwanstein, sondern in der kenianischen Halbwüste am Ufer eines schlammigen Flusses, selbstverständlich barfuß.
Aber der Reihe nach: Ich bin bei meiner Recherche zu digitalen Entwicklungen in Kenia auf ein Projekt namens ‚Learning Lions‘ gestoßen, das jungen Menschen in einer der ärmsten Regionen Kenias eine IT-Ausbildung ermöglicht. Dass der Prinz von Bayern dieses Projekt ins Leben gerufen hat, wusste ich da noch nicht. Ein Prinz hält sich bedeckt. Ich bin also von Nairobi nach Lodwar geflogen, der größten Stadt im Bezirk Turkana im Nordwesten des Landes. Traditionell lebten und leben die Turkana nomadisch. Ihr wertvollster Besitz ist ihr Vieh, vor allem Ziegen und Kamele, mit denen sie umherziehen, deren Milch und deren Blut sie trinken. Getreide- oder Gemüseanbau ist schwierig bis unmöglich in dieser heißen und trockenen Landschaft. So wie ich das verstanden habe, sind die Turkana so etwas wie die Ostfriesen Kenias. In Nairobi halten viele die Turkana für arm, rückständig und belächeln ihren Dialekt.
Aber natürlich verändert sich auch dieser entlegene Winkel Kenias. Die meisten Nomaden bzw. deren Kinder sind inzwischen sesshaft geworden. In Lodwar gibt es Bankautomaten, Tankstellen, eine Post und sogar ein ziemlich hippes Café, in dem man ganz passable mexikanische Quesadillas essen kann. Im Moment wird auch eine neue Straße hierhin gebaut, die die alte Schotterpiste nach Turkana und weiter in den Südsudan ersetzt — wie bei vielen Infrastruktur-Projekten in Kenia finanziert mit chinesischem Geld. Ob das neue Interesse auch mit dem Öl zusammenhängt, das vor ein paar Jahren in Turkana entdeckt wurde, ist nicht auszuschließen. Bisher scheint von dem neuen ‚Oil Money’ aber noch nicht viel bei den Menschen hier angekommen zu sein. Auf dem Land sowieso nicht, aber auch nicht in der Stadt. Die ungeteerten Straßen, die einfachen, flachen Häuschen und auch die Menschen in Lodwar sehen jedenfalls nicht nach viel Geld aus. Aber sie sehen auch längst nicht so arm und verloren aus, wie sie in Nairobi vielleicht manchmal gesehen werden.
Trotzdem ist Lodwar nicht unbedingt ein Ort, an dem ein normaler Mensch einen modernen IT-Campus planen würde. Noch viel weniger würde ein normaler Mensch einen modernen IT-Campus an einem noch viel entlegeneren Ort, zwei Autostunden von Lodwar entfernt, planen: am Ufer des Turkana-Sees, weit entfernt vom nächsten Wasserhahn, noch weiter entfernt vom nächsten Computergeschäft und noch viel weiter entfernt vom nächsten Breitband-Internetzugang, für den vor etwa zehn Jahren im ganzen Land Kabel verlegt wurden. Beziehungsweise fast im ganzen Land. Oder sie wurden wieder ausgegraben. Aber das ist eine andere Geschichte. Ich schweife ab. Zurück also zum Prinzen. Ein Prinz ist nämlich kein normaler Mensch.
Und so hat der Prinz von Bayern, der natürlich Ludwig heißt, entschieden, genau hier, am Ufer des Turkana-Sees, weit entfernt vom nächsten… naja, wie gesagt. Jedenfalls will ich mir diesen Ort angucken und habe mir einen Geländewagen mit Fahrer organisiert. Wyclef, ein Mitarbeiter der ‚Learning Lions’ begleitet mich. Das Projekt existiert schon ein paar Jahre in Lodwar. Wyclef ist einer der ersten Absolventen dieses zunächst dreimonatigen IT-Crash-Kurses und wie viele seiner damaligen Klasse mittlerweile selbst Lehrer für die nachfolgenden Jahrgänge. Peer-To-Peer-Learning nennt sich dieses Prinzip. Im Moment werden auf diese Weise in Lodwar 30 junge Erwachsene pro Klasse ausgebildet. Im neuen IT-Campus am Turkana-See sollen einmal mehrere Hundert ‚Lions’ lernen und auch arbeiten. Die Bauarbeiten haben schon begonnen. Eigentlich wollte ich Ludwig dort treffen, aber an diesem Fluss geht es nicht weiter.
Ob der Fluss einen Namen hat, weiß ich nicht. Vielleicht ist es auch schwierig einen Fluss zu benennen, der mal fast gar nicht existiert (wenn es — wie meistens — lange nicht geregnet hat), der mal breiter ist als der Rhein (wenn es — wie vor ein paar Tagen — heftig regnet), und der mal zwar nicht so breit, aber unberechenbar tief und schlammig ist (wenn es — wie heute — vor Kurzem heftig geregnet hat). Eine Brücke gibt es nicht und der Geländewagen kommt hier heute nicht durch. Und so warten ich und meine Delegation hier am Ufer auf Ludwig, der sich später in der Gegenrichtung nach Lodwar aufmachen wird. Ein Prinz findet sicher eine Möglichkeit, über einen popeligen Fluss zu gelangen. Gibt es heute eigentlich noch Sänften? Die Wartezeit verbringe ich damit, im trockenen Teil des Flussbettes nach Steinen zu suchen. Angeblich wimmelt es in Turkana von Edelsteinen. Ein Haufen größerer und kleinerer Kinder beobachtet mich interessiert dabei. Ich finde einen hübschen dunkelgrünen Stein und frage einen Jungen, der als einer der wenigen englisch spricht, was das wohl ist. „Stone“, sagt der Junge trocken und ich frage mich, ob mir die sengende Halbwüstensonne schon das halbe Hirn weggeschmolzen hat. Die Kinder halten mir jetzt ständig dunkelgrüne Steine vor die Nase. Ich schweife wieder ab. Es sind inzwischen zwei Stunden vergangen. Wo bleibt eigentlich der Prinz?
Eine in weiß gehüllte Gestalt nähert sich dem gegenüberliegenden Ufer. Zu meiner Überraschung watet er uns einfach durch das oberschenkeltiefe schlammige Wasser entgegen. Ich habe irgendwo gelesen, dass es in Turkana Krokodile gibt. Vor lauter Anspannung vergesse ich einen Knicks zu machen, als Ludwig plötzlich vor mir steht und mich freundlich begrüßt. „Lass uns das Interview da drüben im Schatten machen“, schlägt er vor. Hier gibt es Schatten? Offenbar hat der Prinz ganz gute Ideen. Ob der neue IT-Campus auch eine sein könnte, schaue ich mir in den nächsten Tagen an. Den Geländewagen überlasse ich Ludwig nach dem Interview für die Fahrt nach Lodwar. Am anderen Ufer wartet ein Motorradtaxi auf mich. Ich kremple die Hosenbeine hoch und hoffe, dass die Krokodile nicht nur Prinzen verschonen.