Der Höhepunkt meines Besuchs in Lower Barton Creek ist der Gottesdienst am Sonntagmorgen. Susanna und Eva tragen normalerweise ein kleines schwarzes Kopftuch. Für den Gottesdienst binden sie sich ein großes schwarzes Tuch um, das ihre Haare, den Nacken und den Hals komplett bedeckt. Ich frage Eva, ob ich mir auch meinen Schal umbinden soll. Sie findet es gut. „Dann ist Dein Ausschnitt auch bedeckt.“ Ich bin etwas gekränkt, schließlich dachte ich, dass ich mich züchtig gekleidet habe, aber der Ansatz meines Schlüsselbeins scheint doch zu viel Haut für die Amish zu sein.
Die Kirche beginnt um acht Uhr. Wir fahren aber bereits um sieben los, obwohl die Kirche nur zehn Minuten entfernt liegt. Die Kirche ist das einzige Gebäude aus Stein, das ich in Lower Barton Creek gesehen habe. Auf dem Platz vor dem Gebäude gibt es Reihen von Pfählen, an denen die Familien ihre Pferde anbinden. Danach trennen sich Männer und Frauen. Die Männer gehen auf die linke, die Frauen auf die rechte Seite vor der Kirche und stellen sich in einer Linie vor den beiden Eingängen der Kirche auf. Die Frauen, die anschließend erst kommen gehen die Reihe entlang, begrüßen jede einzelne andere Frau mit Handschlag und einem Kuss auf den Mund. Die ankommende Frau flüstert „Gott segne uns“, die andere Frau flüstert „Amen“ zurück. Man geht die Reihe entlang und stellt sich abschließend ans Ende. Neuankömmlinge müssen dann eine noch längere Reihe abschreiten und sich dann einreihen. Die Männer machen auf der linken Seite das Gleiche. Das Ganze findet unglaublich leise statt, niemand lächelt oder lacht. Man fühlt sich wie auf einem Begräbnis. Im krassen Gegensatz steht dazu der blendende Sonnenschein und eine Horde Papageien, die in den Palmen neben der Kirche Radau macht. Das Prozedere wird der Glaubensbruder- bzw. Glaubensschwesterkuss genannt und findet jeden Sonntag vor der Kirche statt. Ausgenommen sind Kranke.
Ich sehe aus der Ferne Franz, der mich mit nach Lower Barton Creek genommen hat. Er hat sieben Kinder wie die Orgelpfeifen, seine Frau ist hochschwanger. Kein Wunder, dass er keinen Platz für mich hatte.
Um acht Uhr ruft der Prediger „Herein“ und die Amish betreten die Kirche, die Frauen auf der rechten Seite, die Männer auf der linken Seite. Der Gottesdienst beginnt als die vier Vorsänger ein Lied aus einem hochdeutschen Gesangsbuch anstimmen. Die Amish singen genau wie die Altkolonier: Die Noten werden lange gehalten und die Wörter extrem gezogen ohne Melodie oder Rhythmus. Während es in der Schule in Shipyard nur 30 Kinder sangen, sind es in der Kirche 300 Erwachsene, die aus vollster Brust singen. Nach den vier Strophen, die eine gefühlte halbe Stunde dauern, tun meine Ohren weh.
Nach dem Lied folgt die Predigt, die der Priester auf Plattdeutsch hält. Er spricht sehr leise und monoton. Kindergequengel und Vogelgezwitscher übertönen den Sermon, ich verstehe kaum etwas und meine Gedanken schweifen ab. Plötzlich stehen alle um mich herum auf, drehen sich um, fallen auf die Knie, stützen sich mit den gefalteten Händen auf den Sitzbänken ab und fangen stumm an zu beten. Nach zwei Minuten setzen sich alle genauso plötzlich wieder auf und der Priester fährt mit seiner Predigt fort.
Nach etwa zweieinhalb Stunden wird der Gottesdienst mit einem Lied beendet. Der Abgang erfolgt geordnet. Die hinteren Reihen gehen zuerst, dann folgen die vorderen, niemand drängelt. Die Amish verabschieden sich nicht groß voneinander, sondern gehen zügig zu ihren Kutschen und fahren nach Hause.