Lucas und seine Begleiter sind spät dran. Selbst für brasilianische Verhältnisse. Es ist halb vier am Nachmittag. 30 Minuten zuvor war er mit dem Kommandanten der Militärpolizei von Santa Marta für ein Interview verabredet. Nun steht die Gruppe am Fuß dieses steilen Hügels mitten in Rio de Janeiro und wartet auf die Seilbahn, die sie hinauf befördern soll.
Lucas ist in der Gruppe so etwas wie der mit der Augenklappe unter den Blinden. Denn der Student war schon einmal oben auf dem Hügel von Santa Marta. Zur Vorbesichtigung. Bis vor gut zwei Jahren regierte hier eine bewaffnete Drogenbande, das Comando Vermelho. Dann kamen Sondereinheiten der Polizei. Zwei Monate lang bekämpften sich beide Seiten bis die Kriminellen vertrieben werden konnten. Santa Marta war die erste von rund 50 Favelas im Herzen Rios, die „befriedet“ wurde.
„Ich würde gern erfahren, was sich dadurch im täglichen Leben der Menschen geändert hat“, sagt Lucas. Inzwischen ist die Seilbahn da, die eher aussieht wie ein Lastenaufzug. Viele Menschen stehen dicht zusammengedrängt in dem kleinen Abteil. Dazwischen Lucas, sein Kameramann Jorge und der deutsche Stativträger. Favelas wie Santa Marta kannte Lucas zuvor auch nur aus dem Fernsehen. „Wir sagen nicht umsonst, Rio ist die geteilte Stadt“, meint er. Der Teil von Lucas ist eigentlich die Mittel- und Oberschicht. Doch Lucas ist Reporter bei TV PUC, der Fernsehredaktion der Katholischen Universität von Rio. Es sind ausschließlich Studenten, die ein wöchentliches Magazin mit Talkelementen und Beiträgen produzieren, dazu Filme für den offenen Kanal.
Koordinatorin der Fernsehredaktion ist Carmem Petit. Für sie ist entscheidend, dass ihre Studenten „auf die Straße gehen“ und nicht nur im Hörsaal säßen. „Das ist wichtig, damit sie eine professionelle journalistische Haltung erlernen.“ Ihre 30 Studenten lernten natürlich, wie man ein Fernsehprogramm produziere. Aber sie lernten eben auch einen Teil der Wirklichkeit kennen, der vielen von ihnen zuvor unbekannt gewesen sei.
Ganz oben auf dem Hügel ist die Zentrale der UPP Santa Marta. UPP ist die Abkürzung für ein neues System, das übersetzt etwa „Einheit der Friedenspolizei“ heißt. Viele der vom Staat eroberten Favelas haben nun so eine Einheit, um Vertrauen auf Nachhaltigkeit bei der Bevölkerung zu schaffen. Die Aussicht hier oben sei gigantisch, findet Lucas. Nur der Polizeichef ist leider nicht da. Aber aus irgendeinem Raum dringen schiefe Töne verschiedener Streichinstrumente.
In einen kleinen Raum sind an die 40 Kinder und Jugendliche gedrängt. Vorn steht eine junge Frau, die im Militärton den Takt vorgibt. Sie heißt Brenda Knetsch und ist die Leiterin eines Musik-Sozialprojektes. „Man muss ein bisschen strenger sein, sonst kehrt keine Ruhe ein“, entschuldigt sie sich. Zwei Jahre gibt Brenda Knetsch nun schon Unterricht hier. „Das Viertel verändert sich“, sagt sie. „Die Kinder bringen ihre Eltern mit, die Eltern sind sehr zufrieden, dass ihre Kinder hier üben, Disziplin lernen.“
Der allererste Schüler war Antonio, 20 Jahre alt. „Ich wollte immer schon Violine lernen, von klein auf. Aber es gab ja keine Möglichkeit hier.“ Nach der Besetzung durch die Polizei habe er einen Zettel mit dem Angebot gefunden. „Es waren aber nicht genug Schüler, also habe ich alle meine Freunde zusammengetrommelt, damit der Kurs startet.“ Reporter Lucas fragt nach weiteren Veränderungen im täglichen Leben durch die UPP. Antonio muss nachdenken. „Nicht so viel“, antwortet er. „Aber es ist ruhiger geworden?“, fragt Lucas. „Ja es ist ruhiger geworden“, antwortet Antonio.
Draußen, etwas unterhalb des UPP-Gebäudes spielen Kinder Fußball. Lucas spricht mit einem jungen Vater, der bestätigt, dass er sich als Vater sehr viel sicherer fühle ohne Drogenbanden. Vorbei läuft eine schwer bewaffnete Patrouille von Militärpolizisten der Friedenseinheit.
Es wird schon dunkel, als das Interview mit einem Vertreter des Hauptmanns endlich stattfindet, der etwas zum Verhältnis von Polizei und Favela-Bewohnern sagen soll. Schließlich war das nicht immer das Beste. Gefürchtet waren die Einsätze der Spezialeinheit „BOPE“, der Markenzeichen ein Totenkopf ist. Zwischen bewaffneten Drogendealern und einfachen Bewohnern machten die schwer bewaffneten Einheiten wenig Unterschied. Sergeant Ismar Duarte erklärt, dass es natürlich bei Schusswechseln zu unschuldigen Opfern gekommen sei, was die Skepsis der Leute hier erkläre. Aber durch die permanente Präsenz der UPP habe man viel Vertrauen gewinnen können.
Lucas ist zufrieden. Der Dreh ist gut gelaufen, meint er auf dem Rückweg. Die Seilbahn nach unten ist in den Abendstunden fast leer. „Ich fand das sehr spannend hier. Ich glaube, dass sich schon viel verändert hat, aber man merkt einigen Leuten auch noch die Skepsis an, ob der Friede von Dauer ist.“ 2014 kommt die Fußball-WM, 2016 Olympia. Mancher befürchtet, dass es danach wieder vorbei sein könnte mit dem staatlichen Engagement.