Ins Gefängnis würde er nicht zurück gehen, das wusste Sandro do Nascimento. Das Gefängnis war die Hölle, heiß, dreckig, überfüllt. Sandro ist auf Kokain, das er mit Geld aus einem Überfall bezahlt hat. Die Militärpolizei ist ihm auf den Fersen. Also besteigt er den Stadtbus mit der Nummer 174 vor den majestätischen Palmen des botanischen Gartens in Rio de Janeiro, zückt seinen 38-er Revolver und nimmt elf Fahrgäste als Geiseln.
Gleichzeitig mit der Polizeiverstärkung und der Sondereinheit BOPE treffen die Kamerateams des größten Fernsehsenders „TV Globo“ ein, deren Zentrale nur einen Steinwurf entfernt ist. 35-Millionen Brasilianer erlebten live die mehr als vierstündige Geiselnahme im TV. Das war im Juni 2000. Sandro do Nascimento ist zu diesem Zeitpunkt 21 Jahre alt. Es sollte der letzte Tag seines Lebens sein.
Der Vater von Sandro verlässt die Mutter noch vor seiner Geburt. Sie zieht ihn zunächst in einem Armenviertel von Rio auf. Als Sandro sechs Jahre alt ist, wird die Mutter vor seinen Augen ermordet. Sandro lebt von nun an auf der Straße, so wie hunderte andere Kinder und Jugendliche. Die meisten wie er: männlich und dunkelhäutig. Statt lesen und schreiben zu lernen, lernt er betteln und klauen, nimmt Drogen. Er schläft wie viele andere Straßenkinder im Eingangsbereich der Candelaria-Kirche, der schönsten und bekanntesten Kirche der Stadt, ein Wahrzeichen von Rio.
Am 23. Juli 1993, vor 18 Jahren, eröffnet eine Patrouille der Militärpolizei das Feuer auf 72 dort schlafende Kinder. Vermutlich werden sie von Geschäftsinhabern bezahlt, die die Unruhestifter los werden wollen. Acht obdachlose Kinder sterben im Kugelhagel, viele werden verletzt. Die Tat löst weltweit Proteste und Spendenaktionen aus, von denen die Straßenkinder jedoch kaum etwas spüren.
Das Massaker von Candelaria wird Mitte der 90-er Jahre kurz zum Symbol für Gewalt gegen Kinder. Doch das globale Gedächtnis ist kurz. Schnell ist Candelaria wieder vergessen, die Todesschwadronen aber bleiben. Von den mutmaßlichen Tätern wird nur ein Polizist schuldig gesprochen.
Jahre später sucht ein Sozialarbeiter nach den 64 Überlebenden des Blutbades. Das Ergebnis: Von ihnen sind weitere 39 eines gewaltsamen Todes gestorben, als Täter bei Überfällen, in Bandenkriegen oder als Opfer von Todesschwadronen der Polizei. Von den 25 Verbliebenen sitzen zehn in Haft, zwei haben sich mit Aids infiziert, zwei sind Größen im Drogengeschäft, zwei Schicksale sind ungeklärt. Von den neun leben acht weiterhin auf der Straße. Der Neunte ist Sandro do Nacimento, der Enführer des Stadtbuses 174.
Nach ein paar Stunden lässt er die Alten und Schwachen Geiseln gehen, sechs bleiben. Sondereinheiten umkreisen den Bus, wollen den Entführer aber nicht live im TV töten. Irgendwann schreibt eines der Opfer mit Lippenstift an die Scheibe: „Er wird uns alle um 6 töten“. Sandro do Nacimento will erreichen, dass der Bus freigegeben wird. Doch nichts passiert.
Schließlich nimmt er sich eine der Geiseln, Geisa Gonçalves und verlässt den Bus. Die Polizei nutzt die Chance. Von hinten springt ein Spezialbeamter auf Sandro do Nacimento zu und schießt. Aus kürzester Entfernung verfehlt der Polizist aber den Entführer und trifft die Geisel. Im Rückwärtsfallen drückt Sandro do Nacimento instinktiv zweimal den Abzug. Geisa Gonçalves stirbt mit zwei Kugeln im Rücken und einer im Nacken.
Die Polizei überwältigt Sandro do Nacimento und zerrt ihn in einen Polizeiwagen. Die Menge schreit: „Tötet diesen Hurensohn“. Auf dem Weg zum Polizeirevier stirbt Sandro do Nacimento durch Erstickung aus ungeklärten Umständen. Die mitfahrenden Polizisten werden nie verurteilt.
Von den 64 überlebenden Kindern des Candelaria-Massakers ist Sando do Nacimento das 40., das eines gewaltsamen Todes stirbt.
*Anlässlich des 18. Jahrestages des Massakers von Candelaria ein Nachtrag zu Rio de Janeiro.