Mehr als drei Monate sind vergangen. Meine Recherche zum Staudammprojekt Belo Monte ist abgeschlossen, meine kleine Reise durch Brasilien wieder am Startpunkt Rio de Janeiro angekommen. Die Ergebnisse werden im Jahrbuch der Heinz-Kühn-Stiftung veröffentlicht und sicherlich in ein oder zwei anderen Formaten. Zum Abschluss möchte ich als letztes Blog noch ein paar Zeilen über eine Person schreiben, die mich durch ihre Intelligenz, ihren Lebenslauf und ihre Bescheidenheit sehr beeindruckt hat – Marina Silva:
Im Tagungszentrum eines ehemaligen Klosters in der Hauptstadt Brasilia wartet schon ihr Team. Bei der Besprechung soll es um die strategischen Ziele des Instituts Marina Silva gehen, das sie gerade gegründet hat. Marina Silva nimmt sich dennoch eine knappe halbe Stunde für das Interview. Die Ikone der brasilianischen Umweltbewegung spricht leise und schnell, guckt dabei meistens konzentriert auf den Boden. „Das Institut ist eine bescheidene Organisation, mit der ich die Perspektive habe, die nächsten 30-40 Jahre einen Beitrag zu leisten. Ich bin ja erst 53 Jahre alt“, sagt sie und lächelt.
Rückblick: Als Marina Silva mit 15 Jahren in der Provinzhauptstadt Rio Branco tief in Amazonien ankommt, kann sie weder lesen noch schreiben. Ihr geht es gesundheitlich schlecht, sie hat die Tropenkrankheit Malaria. Deshalb hatte sie die Kautschuksiedlung verlassen, in der die Familie lebt. Bereits im Jahr zuvor war die Mutter an verschiedenen Krankheiten verstorben, ebenso wie drei Geschwister – Folge fehlender Gesundheitsversorgung.
Mit 16 Jahren lernt Marina Silva lesen und schreiben, mit 26 hat sie einen Universitätsabschluss in Geschichte, spezialisiert sich danach in Psychoanalyse und Psychopädagogik. Zum Ende der Ära der Militärdiktatur in den 80-er Jahren schließt sie sich linken Organisationen an, die später in der Arbeiterpartei (PT) aufgehen. Mit 36 Jahren ist Marina Silva jüngstes Mitglied der Geschichte im brasilianischen Senat. Mit dem Wahlsieg der PT im Jahr 2003 ernennt sie der neue Staatschef Lula da Silva zur Umweltministerin.
Hier reibt sie sich im Kampf gegen die anderen zunehmend auf Wirtschaftsinteressen bedachten Regierungsmitglieder auf. Besonders mit Lulas Stabsleiterin, Dilma Roussef, die auch das Ministerium für Energie und Mienen leitet, werden Silva Konflikte nachgesagt. 2008 legt sie ihr Amt aus Protest gegen den „Plan für ein nachhaltiges Amazonien“ nieder, der eine großflächige industrielle Erschließung des Regenwaldes bedeutet, und scheidet aus der PT aus.
Im Präsidentschaftswahlkampf 2010 tritt Marina Silva für die grüne Partei (PV) als Gegenkandidatin der von Lula protegierten Bewerberin Dilma Roussef an. Unerwartet holt sie fast 20 Prozent der Wählerstimmen. Im zweiten Wahlgang zieht dennoch Dilma Roussef in den Präsidentenpalast Planalto ein. Im Juni 2011 verlässt Marina Silva überraschend die PV, um eine „breitere Bewegung“ zu schaffen, wie sie sagt.
„Die Partei konnte nicht verstehen, dass wir einen Moment des Wandels der Politik erleben, im Sinne der Vertiefung der Demokratie“, erklärt sie. „Und wenn die Partei nicht fähig ist, in sich selbst die demokratischen Strukturen zu vertiefen, wie kann sie das dann der Gesellschaft antragen? Das passt nicht zusammen. Außerdem kann man nicht aus dem Pragmatismus, in einer Partei- und nochmal Kandidat zu sein, auf seine Werte verzichten. Wenn man das macht, wird man auch anfangen zu denken, dass der Zweck die Mittel rechtfertigt.“
Ethik ist einer der Schwerpunkte im Politikverständnis der Marina Silva. Nach ihren Worten erlebten wir in diesem Moment eine zivilisatorische Krise, eine Krise der Werte. Das gelte für das Staudammprojekt Belo Monte wie für die globale Finanzkrise. „Die Finanzkrise war kein technisches Problem, sie war ein ethisches. Denn wir haben keine ethische Verabredung, wie wir unsere Technologie dazu verwenden, Lebensqualität zu generieren, anstatt mehr Reichtum für einige Wenige und Nachteile für den großen Rest.“
Sie wirft den Ländern eine ethische Inkohärenz vor. Beispiel Deutschland: Lange Jahre beruhte das wirtschaftliche Wachstum zum Teil auf nuklearer Energieversorgung. „Deutschland hat die Entscheidung getroffen, seine Atomkraftwerke zu deaktivieren. Brasilien macht jedoch unglücklicherweise weiter mit seiner Agenda der nuklearen Energiegewinnung. Woher bekommt Brasilien die Technologie dafür? Aus Deutschland!“
Im Juni vergangen Jahres wurde die Bauarbeiten am brasilianischen Reaktor Angra III wieder aufgenommen. Der Bau geht noch zurück auf ein Abkommen zwischen der deutschen Regierung und dem brasilianischen Militärregime im Jahr 1975. Noch 2010 betonte Außenminister Westerwelle die deutsche Unterstützung für den brasilianischen Atomkurs und stellte die Verlängerung einer Hermesbürgschaft (Exportkreditgarantie) in Höhe von knapp 1,5 Milliarden Euro in Aussicht. Aus Sicherheitsbedenken lief die Bürgschaft nach dem Unglück in Fukushima Ende Juli 2011 jedoch ohne Verlängerung aus, soll nun aber wohl verlängert werden.
„Normalerweise blicken die Leute von außerhalb auf Brasilien, auf Lateinamerika oder Afrika, als wären es nur wir, die inkohärent wären in diesem Punkt. Ich denke, es ist Zeit für mehr zivilisatorische Demut. Denn unglücklicherweise sind wir alle an diesen Prozessen beteiligt. Nachhaltige Entwicklung ist keine Art die Dinge zu tun, es ist eine Art zu sein. Das erfordert einen Blick, der mit Sicherheit kooperativer ist, demütiger, großzügiger und weniger arrogant“, so Marina Silva.
Marina Silva plant eine breite Bewegung in Brasilien, die statt kurzfristiger Politik eine langfristige diskutieren soll. Politiker, Akademiker, Sozial- und Jugendbewegungen. Die besagte Vertiefung der Demokratie. Ob sie dann wieder als Präsidentschaftskandidatin antritt? „Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass der zukünftige Kandidat sich diesen Fragen verpflichtet fühlen sollte.“