Die Menschen auf dem Land werden vom Staat allein gelassen, sagt der Agrarexperte Manuel Fandiño. Sie leben fast ausschließlich von Reis und Bohnen. Dabei habe Nicaragua ein großes Potenzial: Die Chancen des Landes liegen in ökologisch produzierten Grundnahrungsmitteln, in der nachhaltigen Produktion von Holz und Fleisch. Fandiño arbeitet seit mehr als 20 Jahren mit den Campesinos in Nicaragua. Seit über 10 Jahren ist er Direktor der Zeitschrift „enlace„.
Wie geht es den Kleinbauern in Nicaragua?
Sie sind verlassen. Vor allem die neoliberalen Regierungen haben sie vollkommen allein gelassen. Sie leben eigentlich nur von Reis und Bohnen. Das Leben der Kleinbauern ist so begrenzt, dass die Familien nur sehr wenige Produkte konsumieren: Reis, Bohnen, Mais, Zucker, Salz, Seife, um die Kleidung zu waschen; Zwiebeln, um dem Essen ein wenig Geschmack zu geben. Milch wird kaum getrunken, auch wenn die Familie vielleicht eine Kuh hat. Oft wird Käse und Milch verkauft, um ein kleines Einkommen zu haben. Reis und Bohnen haben glücklicherweise eine Kombination aus Protein, Aminosäuren und Kalorien, die den Grundbedarf zum Überleben decken.
Die einzigen, die sich wirklich darum gekümmert haben, dass sich an der Situation der Menschen auf dem Land etwas ändert sind die Nicht-Regierungsorganisationen (NRO). Die NROs waren quasi die Speerspitze, die eine Alternative für das Land vorgeschlagen hat. Wenn ich auf dem Land nach neuen Ideen gesucht habe, dann bin ich eigentlich nie zu staatlichen Stellen gegangen. Wenn ich Innovationen sehen wollte, dann musste ich die NROs fragen, die mit den Campesinos arbeiten.
Es gibt nun wieder eine gewisse Aufmerksamkeit für die Campesinos, aber es waren eben viele Jahre totale Vernachlässigung.
Und welche Folgen hatte das?
Massive Emigration und eine starke Desintegration der Familien. Bandenprobleme, Drogenprobleme – all das, was auf das Auseinanderfallen der Familie in den Städten und auf dem Land folgt. In einigen Gemeinden gab es nur noch eine Familie oder nur Frauen. Die Männer verschwinden im November, wenn die Zuckerrohr-Ernte in Costa Rica beginnt. Im Mai tauchen sie dann mit ein paar Ersparnissen wieder auf.
Und der Staat stellt diesen Menschen nicht einmal einen Pass zur Verfügung. Einen Pass zu bekommen kostet soviel, wie ein Campesino in einem Monat verdient. Entsprechend müssen die Migranten oft Schulden machen, die sich in sechs Monaten dann schnell mal verdoppeln. Dann bleiben diese Leute auf Schulden sitzen, die sie gemacht haben, nur damit sie das Land verlassen können, um den Lebensunterhalt für sich und ihre Familie zu verdienen.
Denken Sie, dass die Migration bei der Entwicklung helfen könnte?
Es gibt zwei Formen von Migration. In den USA sind normalerweise die Migranten aus der Mittelklasse. Und dann hast Du die Kleinbauern, die als billige Arbeitskräfte nach Costa Rica gehen. Es gibt Schätzungen, dass mehr als eine Million Nicaraguaner in Costa Rica arbeiten. Das sind die Menschen, die den Kaffee pflücken, das Zuckerrohr schneiden und alle die Früchte in Costa Rica ernten. Diese Leute machen das, um mit dem Geld im Mai ihr Land zu bestellen und zu hoffen, dass es eine gute Ernte gibt. Aber das schafft keine Entwicklung, das ist eine Überlebensstrategie.
Kann Nicaragua sich denn noch selbst ernähren?
Ja, Nicaragua kann sich ernähren. Seit den 90er Jahren steigen aber die Einfuhren von Grundnahrungsmitteln. Nicaragua produziert noch genug Mais und Bohnen für den eigenen Bedarf – auch wenn es bereits Maisimporte gibt. Beim Reis ist es aber beispielsweise nur noch die Hälfte, da sind wir schon abhängig vom Ausland. Öl zum Kochen wird auch importiert.
Wo liegen denn die Schwierigkeiten in der täglichen Arbeit?
Die traditionelle Art, wie Reis und Bohnen gesät werden funktioniert nicht mehr. Die Bauern warten auf den Regen, aber wegen des Klimawandels ist der Regen jedes Jahr unregelmäßiger. Und das drängt den Campesino immer weiter in die Armut. Und zwar soweit, dass sie nicht mal mehr wissen, was sie essen sollen. Schon gar nicht dreimal am Tag. In vielen Häusern auf dem Land wird der Herd nur einmal am Tag angemacht. Und ich war auch schon in Dörfern da wird er nicht mal jeden Tag angemacht. Das ist beklemmend. Ein stilles Drama.
Die Situation wird also schlechter?
Die nationalen Armutszahlen gehen runter. Aber diese Daten werden nicht besser, weil sich im Land etwas verbessert, sondern weil die Menschen andere Auswege suchen. Eine Familie aus einem der super-trockenen Dörfer zum Beispiel: Die Tochter arbeitet als Hausmädchen in El Salvador, der Vater geht vier Monate im Jahr nach El Salvador, um dort auf dem Bau zu arbeiten und Geld zu verdienen. Die anderen Kinder teilen sich die Arbeit zuhause auf und machen Abitur oder studieren. Aber ohne die Unterstützung durch den Vater und die Schwester ginge das nicht, denn die Hälfte der Ernte geht eigentlich immer drauf.
Nur dieses System aus Migration und anderen Jobs, erlaubt es der Familie überhaupt noch in ihrem Ort zu wohnen.
Die Menschen leben also noch auf dem Land, aber nicht mehr vom Land sondern sie haben nun andere Einkommensquellen.
Ja, und die Migration ist dabei eine besonders essentielle Einkommensquelle.
Was müsste sich denn ändern, damit die Menschen wieder von der Arbeit auf dem Land leben könnten?
Als erstes müssten wir ihrer Arbeit die Bedeutung beimessen, die sie hat: Sie produzieren unser aller Nahrung. Zweitens müsste es einen Staat geben, der seine Prioritäten auf die ländliche Produktion ausrichtet: Strom, Wasser und was die Menschen sonst noch brauchen. Es müsste auf dem Land wirklich investiert werden, zum Beispiel in Bewässerungssysteme, um etwas gegen die Dürre zu tun.
Diese Regierung hat eine historische Chance verpasst. Zusammen mit der Zivilgesellschaft hätten sie Nicaragua zu einem agro-ökologischen Land machen können. Und die Botschaften müssten sich dann darum kümmern, die Produkte aus Nicaragua bekannt zu machen. Aber die Botschafterposten sind lediglich politische Prämien.
In deutschen Supermärkten kann man durchaus einige ökologische Produkte aus Nicaragua kaufen.
Ja, einige, Kaffee und Kakao zum Beispiel. Aber das ist minimal. Auch der Faire Handel ist ja weder gerecht noch ein echter Markt. Das sind maximal zwei Prozent des Kaffees, den Nicaragua exportiert. Der Unterschied ist minimal, damit verändert sich nicht das Leben und es erlaubt den Kleinbauern auch nicht Eigenkapital aufzubauen, um zu investieren.
Die Gewinne bleiben in der Weiterverarbeitungskette: Röstereien, Marketing und so weiter. Wenn Sie den Kaffee in Europa für 16 US-Dollar (11 Euro) pro Pfund kaufen, und der Prozent ihn für einen US-Dollar verkauft, dann muss man nicht sonderlich weise sein, um zu wissen wo das Geld bleibt.
Was sind die Stärken der Landwirtschaft in Nicaragua?
Für die Entwicklung auf dem Land sehe ich drei zentrale Themen: die nachhaltige Bewirtschaftung der Wälder und eine ökologische Produktion von Grundnahrungsmitteln und Fleisch.
Nicaragua hat ein enormes Potenzial: Zwei Seen, die für nichts genutzt werden. Millionen von Litern, mit denen Felder bewässert werden könnten, um dann Nahrungsmittel in die ganze Welt zu exportieren. Viele kleine Produzenten sind schon in ökologischen Anbaumethoden geschult und könnten in Kooperativen ihre Produkte vermarkten.
Dann haben wir noch eine riesige Kapazität, um Holz zu produzieren: In Europa braucht ein Baum 120 Jahre bis er so dick ist wie ein Baum in Nicaragua schon nach 20 Jahren. Wir haben das mal ausprobiert und einen Baum aus einem nachhaltig bewirtschafteten Wald gefällt. Er war ein wenig angefressen. Ein Sägewerk hätte dafür 25 US-Dollar gezahlt. Und dann wurde der Baum verarbeitet. Sogar aus den Ästen haben Künstler was gemacht. Insgesamt wurden dann 24.000 US-Dollar an dem Baum verdient.
Die Viehhaltung funktioniert in Nicaragua sehr natürlich. Der Bauer lässt das Tier einfach frei herum laufen, vier Mal im Jahr werden die Tiere gegen Parasiten und Krankheiten behandelt. Das ist alles. Die Tiere ernähren sich nur von natürlichem Gras. Wenn das Fleisch als solches verkauft würde, könnten die Landwirte in Europa und den USA drei Mal soviel dafür bekommen. Aber im Moment werden diese Rinder nur für billige Hamburger in den USA geschlachtet.
Das Potenzial in der Holzproduktion und die Fähigkeiten der Menschen könnten aus diesem Land eine echte Alternative machen – ein Modell für die ganze Welt.
Aber es gibt doch schon eine ganze Reihe von agro-ökologischen Kooperativen?
Ja, aber die können ihre Produkte oft nicht als solche verkaufen. Was bringt das also? Für die ökologische Produktion wird viel mehr Arbeitskraft gebraucht. Auch in der Produktion von Mais und Bohnen gibt es viele Campesinos, die in ökologischen Anbaumethoden ausgebildet wurden, aber niemand nutzt sie, weil es sich nicht lohnt. Es gibt weder national noch international einen Markt für diese Produkte.
Welche Rolle spielt der Weltmarkt für Nicaragua?
Nicaragua war immer abhängig vom Weltmarkt. Erst als Kolonie und jetzt produziert es immer noch Zuckerrohr, Kaffee und neuerdings Kakao. Ich glaube Nicaragua muss den Weltmarkt mal vergessen und stattdessen für Nahrungssicherheit im eigenen Land sorgen. Die Menschen müssten neben Reis, Bohnen und Tortillas auch mal Milch zu sich nehmen, Früchte essen und die Produkte weiter verarbeiten. Die Priorität des Landes sollte sein, dass die Leute genug zu essen haben und sich auch besser ernähren.
Für mich ist die Lösung, dass man nicht mehr die typischen Exportprodukte herstellt, die das Land abhängig machen. Das einzige, was diese Produkte garantieren sind ein paar Centavos. Das Land müsste sich einer anderen Logik unterwerfen. Von mir aus kann man auch mit dem Kaffee weiter machen, aber das Land müsste mit diesem ungerechten internationalen Schema brechen. In Nicaragua wird der Kaffee zum Beispiel nicht geröstet sondern als Rohbohne exportiert. Hier wird nur das weiter verarbeitet, was sich nicht ins Ausland verkaufen lässt. Bei den Früchten ist es das Gleiche: Die Melonen, die hier auf dem Markt verkauft werden, sind die, die sich nicht in die USA exportieren lassen. Wir essen den Müll der Exportproduktion.