Wenn die Flut kommt

Wenn die Flut kommt, habe ich immer Angst. Manchmal steht das Wasser bis zu unserer Eingangstür, dann schwimmen Schlangen darin und der Trinkwasser-Brunnen ist überschwemmt.“ Die neunjährige Nurul erzählt mit leiser Stimme. Ihre Mutter Golapi sitzt neben ihr in der spärlich beleuchteten Hütte, die sehr klein, aber aufgeräumt ist. Beide haben sich schick gemacht für den besonderen Anlass. Der besondere Anlass, das ist meine Wenigkeit. Ich bin der erste bideshi (bangladeschisch für Ausländer), den Nurul und ihre Mutter in ihrem Leben sehen. Als ich Nurul am Vormittag fragte, ob ich sie und ihre Familie besuchen dürfte, nickte sie strahlend. Jetzt hat sich das gesamte Dorf vor der Hütte von Nuruls Familie versammelt und tuschelt über die Weiße, die dort drinnen im Halbdunkeln ungeschickt mit ihrer großen Fotokamera hantiert.

Tochter und Mutter

Nurul und Mutter Golapi

 

Es ist finster in der 9 Quadratmeter großen Lehmhütte, in der die Familie lebt. Mit Vater und Mutter teilt Nurul sich ein Bett. Ansonsten gibt es ein paar Töpfe, einen kleinen Tisch in der Ecke und: einen Fernseher. Das ist sehr ungewöhnlich, denn eigentlich haben die Dorfbewohner keinen Zugang zu Elektrizität. Die spärliche Stromversorgung ist einzig und allein für die Landwirtschaft vorgesehen. Doch Nuruls Familie hat die Leitungen illegal angezapft. Niemanden stört´s.

Vater und Bruder sind, wie jeden Tag zu dieser Jahreszeit, auf dem Feld zur Reisernte.

Nuruls Dorf liegt an einem Seitenarm des Jamuna-Flusses, etwa eine Autostunde von Natore entfernt, im Nordwesten Bangladeschs. In dieser Gegend ist Wasser Glück und Fluch zugleich. Alles ist auf sein Kommen und Gehen ausgelegt. In der Monsoon-Zeit stehen 1/3 Bangladeschs regelmäßig unter Wasser. Auch das Dorf von Nurul. Das war schon immer so, doch seit einigen Jahren hat sich etwas verändert:

Die Flut hat es schon immer gegeben, aber jetzt kommt sie nicht nur einmal im Jahr wie früher, sondern 2-3 Mal. Und das manchmal im Abstand von 2 Wochen.“ erzählt Mutter Golapi.

Der Nordwesten Bangladeschs ist seit Jahr und Tag Risikogebiet für Überschwemmungen. Die großen Flüsse Ganges und Jamuna und ihre Seitenarme durchlaufen die Region. Auf meiner Reise durch die Gegend hatte ich das Gefühl, überall Wasser zu sehen. Den Straßenrand säumen Wassergruben, die teilweise zur Hälfte mit Wasser gefüllt sind. Gerade ist Trockenzeit. Nicht auszudenken, wie das hier während der Monsoon-Zeit aussehen mag.

Die Menschen in der Region sind daran gewöhnt, ihren Alltag nach dem Wetter zu richten. Die gesamte Landwirtschaft hängt von der Regelmäßigkeit der Natur ab. Doch seit einigen Jahren nimmt die Zahl und Stärke der Überschwemmungen zu. Inzwischen kommen die Fluten zu ungewohnten Zeiten und sie brechen schneller über das Land herein. So bleibt den Bauern keine Zeit mehr, ihre Ernte einzuholen und die Felder vorzubereiten. Sie verlieren alles. In einem Land, in dem 70% der Bevölkerung von der Landwirtschaft lebt, ein Desaster. Haznal Gonnyo, einer der ältesten Dorfbewohner, ist einer von ihnen.

70, Reisbauer

Haznal Gonnyo

Er ist Reisbauer und ernährt mit seinem Reisfeld seit Jahr und Tag seine Familie. Nur wenig davon bleibt für den Verkauf übrig. Seit einigen Jahren geht ihm seiner Ernte durch unvorhergesehene und heftige Fluten immer wieder verloren. „So war das früher nicht. Früher wusste ich ganz genau, wann die Flut kommt. Heute kommt sie, wann sie will. Und zerstört meine Existenz.“ er schaut mich mit seinen trüben dunklen Augen an. Irgendwie fühle ich mich schuldig.

Nurul hingegen lächelt. Denn für sie gibt es vielleicht eine Chance auf ein besseres Leben: Sie kann regelmäßig zur Schule gehen. Eine große Besonderheit in einer Region wie dieser, die die Dorfbewohner in der Monsoonzeit regelmäßig für Monate vom Rest der Welt abschneidet. Für die meisten Kinder ist es in dieser Zeit unmöglich, die nächste Schule zu erreichen. Denn diese liegt meist sehr weit entfernt. 

Wenn die Schule zu den Schülern kommt

Doch Nurul hat Glück. Seit drei Jahren besucht sie eine schwimmende Schule. Sie ist Teil des Hilfsprojekts der NGO Shidhulai. Ihr Leiter Rezwan steigt gerade unten am Fluss von einem Boot und kommt lächelnd auf mich zu. Er ist Architekt und hatte vor 11 Jahren eine zündende Idee:

Rezwan, Leiter des Projekts

 

Ich bin hier geboren. Als Kind konnte ich während der Monsoonzeit oft wochenlang nicht zur Schule gehen. Viele Kinder gehen dann irgendwann gar nicht mehr hin. Seit einiger Zeit sind es nicht mehr nur Wochen, sondern Monate,in denen die Kindern nicht zur Schule gehen können. In einem Land wie Bangladesch, in dem etwa die Hälfte der Menschen weder Lesen noch schreiben kann, eine Katastrophe. Da dachte ich mir: wenn die Kinder nicht zur Schule kommen können, warum kommt die Schule dann nicht einfach zu ihnen?“

Inzwischen schwimmen 20 Schulboote auf den Flüssen im Nordwesten, sie erreichen fast 400 Dörfer. Jedes Boot ist mit Solarzellen ausgestattet. So können die Schüler auf dem Boot sogar Computer nutzen.

Schwimmende Schule mit Solarzellen

 

Ich mag die Schule. Sie holt mich ab und bringt mich nach Hause und ich kann auch zur Schule gehen, wenn Flut ist. Mein Bruder kann das nicht.“

Nuruls großer Bruder geht auf die Highschool. Er hat einen weiten Weg zur Schule. Nurul ist die erste in der Familie, die regelmäßig die Schule besuchen kann. Jeden Tag für 2 ½ Stunden. Unterrichtet wird Bangla, Mathe, Englisch, Religion und Sozialkunde.

Nurul im Unterricht

Ich mag Englisch am liebsten. Denn wenn man Englisch kann, kann man auch mit anderen Leuten auf der Welt reden.“ lächelt Nurul.

Wenn sie es denn wirklich lernt. Denn Englisch, genauso wie alle anderen Fächer, lernt sie bei Mili. Die 26Jährige ist seit 8 Jahren Lehrerin. Als ich sie auf Englisch anspreche, versteht sie kein Wort und lächelt nur verlegen. Sie verdient 1500 Taka im Monat, das sind umgerechnet 15 Euro.

Lehrerin Mili unterrichtet alles

 

 

Am Unterrichtssystem muss hier sicherlich noch stark gefeilt werden. Zur Zeit beschränkt sich die Didaktik auf Vorlesen und Nachsprechen von Phrasen aus den Lehrbüchern. Die bekommen die Schüler übrigens umsonst.

Ca. 200.000 Euro kostet das Schulprojekt pro Jahr. Nicht viel, bedenkt man, dass pro Boot jeden Tag 90 Schüler Unterricht bekommen. Finanziert wird das Projekt fast ausschließlich durch private Sponsoren aus der Region und internationale Organisationen. Doch die globale Finanzkrise bekommt auch Rezwans Projekt zu spüren.

Besonders die USA haben den Geldhahn zugedreht. Von denen bekommen wir fast gar nichts mehr“, seufzt er.

Gar nichts bekommt die NGO von der bangladeschischen Regierung. Obwohl die Schulen staatlich anerkannt sind, unterstützt sie das Projekt mit keinem Taka.

Neben den Schulbooten gibt es inzwischen auch schwimmenden Arztpraxen, schwimmende Büchereien und schwimmende Trainingscenter. Hier werden die Erwachsenen in Sachen Landwirtschaft geschult. Unter anderem lernen sie neue Anbaumethoden kennen, die an die neuen Bedingungen angepasst sind, wie zum Beispiel den Bau von schwimmenden Gärten.

Die schwimmenden Arztpraxen sind sicher ebenso sinnvoll, aber ein Tropfen auf den heißen Stein. Im ländlichen Bangladesch kommen auf 300.000 bis 400.000 Menschen ein gesundheitliches Versorgungszentrum und maximal 6 Ärzte. Kranke aus entfernt liegenden Dörfern werden solch ein Versorgungszentrum wohl nie von innen sehen.

Doch der Leiter Rezwan träumt davon, seine Idee irgendwann sogar über die nationalen Grenzen hinweg zu erweitern.

In Zukunft werden auch andere Länder Bedarf haben. Mexiko zum Beispiel, oder einige Staaten in Afrika.“ ist er sich sicher. „Der Klimawandel ist nicht mehr aufzuhalten. Wir müssen uns an die neuen Bedingungen anpassen.“

Für Nurul ist die schwimmende Schule eine große Chance. In Bangladesch ist die Analphabetenrate immer noch hoch. Ca. 30 Prozent der Menschen können nicht lesen und schreiben. Die Frauen sind in Sachen Bildung ofr im Nachteil. Meistens werden sie bereits mit 15 zwangsverheiratet und ziehen dann ihre Kinder groß.

Nurul hat andere Pläne: „Wenn ich groß bin, möchte ich einmal Ärztin werden. Dann will ich arme Leute heilen.“

Nurul, 9 Jahre alt

 

Ob sie dieses Ziel erreichen wird, bleibt abzuwarten. Vielleicht wird es ihr gelingen. Ich würde es ihr wünschen.