Wo niemand leben will

Feierlicher Gesang. Eine Gruppe von Menschen auf sandigem Boden. Flatternde Saris im Wind. Weinende Frauen und Männer. Sie trauern um ein 17jähriges Mädchen. Gestern Nacht ist sie gestorben, an Krebs und an fehlender medizinischer Versorgung. Denn die gibt es nicht auf den Chars im Norden Bangladeschs.

Ich bin in eine der verwundbarsten und bis vor kurzem ärmsten Regionen Bangladeschs gereist. Zu den Schwemmlandinseln, oder Chars, wie die Bangladeschis sie nennen.

Bangladesch verdankt seine Entstehung den Erosions- und Ablagerungsprozess seiner großen Flüsse Jamuna, Ganges und Meghna. Ausdruck und Sinnbild dieser Beweglichkeit des Landes sind die Chars. Die Inseln entstehen und vergehen mit dem Meandern des Flusslaufes. In der Regenzeit wird der Jamuna-Fluss bis zu 10 km breit. Dann sieht man das andere Ufer nicht mehr. Mit den Fluten gehen Jahr für Jahr Schwemmlandinseln verloren. Andere wiederum entstehen durch Ablagerung von Sedimenten. Auf den Chars wohnen die, die nichts haben, die Landlosen, denen kein anderer Fleck im Land bleibt. Viele von ihnen haben einmal Land besessen und es durch Flusserosionen verloren.

Flusserosion

Niemand will hier auf den Chars freiwillig wohnen, denn das Land ist wenig lebenswert. Immer wieder werden die Inseln durch Fluten zerstört und fortgerissen. Und mit ihnen alles Hab und Gut ihrer Bewohner. Aufgrund der Abgelegenheit der Region sagt man, dass weder Hilfsorganisationen noch die bangladeschischen Regierung ein großes Interesse an Engagement in der Region hat.

Die besonders niedrig liegenden Chars werden jährlich geflutet, normalerweise zur Monsoon-Zeit Ende Juni. Dann müssen die Char-Bewohner weiterziehen oder für die Zeit der Flut auf den Dächern ihrer unter Wasser stehenden Häuser leben. Für 4 Millionen Menschen, die die Chars bewohnen, extreme Lebensbedingungen. Im Durchschnitt, so schätzt man, muss jeder Haushalt in den Chars pro Generation 5-7 Mal umziehen. Immer wieder schreiben Experten, dass diese für Fluten und Erosionen prädestinierte Region besonders anfällig für die Folgen des Klimawandels ist. Extremere Wetterbedingungen und Unregelmäßigkeiten können für die Charbewohner zur Katastrophe werden.

Die Bangladeschische Regierung unterstützt die Region so gut wie nicht, sie stellt den dort aktiven NGOs lediglich etwas Personal und Gebäude zur Verfügung.

Ich besuche ein Hilfsprogramm, das hauptsächlich durch britische, aber auch australische Gelder finanziert wird. Das Chars Livelihood Programme (CLP). Das Projekt fördert die Verbesserung der Lebensbedingungen der Charbewohner und versucht, sie aus der gröbsten Armut herauszuführen.

Es ist 5 Uhr morgens, als mich ein Fahrer von CLP in Dhaka an der Haustür abholt. Mir fällt auf, welcher Luxus mir wieder einmal zugestanden wird. Wie bereits auf meiner Recherchereise zu den schwimmenden Schulen werde ich auch diesmal wieder hofiert, als sei ich die Königin von England. Ein riesiger blitzeblanker Jeep (saubere Autos sind in Bangladesch eine Seltenheit!) bringt mich hinauf in den Norden. Mit dabei: Abdul Momin, Human Development Unit Manager. Ich erzähle ihm, dass ich auf der Suche nach Auswirkungen und Anpassung an den Klimawandels bin. Auf meine Frage, ob Klimawandel die Chars betrifft, ist er sich ganz sicher, dass es so ist. Doch wie genau? Keine Ahnung. Längere Trockenzeit? Ja, genau! Und durch die heftigen Regenfälle kommt es zu stärkeren Flusserosionen. Klingt logisch.

Erster Halt ist das Headquarter in Bogra. Das Gelände, der protzige Auftritt des Hauptsitzes von CLP steht in krassem Gegensatz zu dem sonstigen Lebensstandard, der einem in Bangladesch begegnet. Es erinnert mich an eine ähnliche Situation bei der NGO Shidhulai vor einer Woche. Ich bekomme Essen, umsonst. Nun gut, das mag man der bangladeschischen Gastfreundschaft zurechnen. Offenbar legt man auch hier viel Wert auf Öffentlichkeitsarbeit.

Ab jetzt habe ich für 2 Tage einen ständigen Begleiter, Kabir.

Mit Jeep und Fahrer machen Kabir und ich uns auf den Weg nach Gaibandha. Die lassen sich meinen Besuch ganz schön was kosten, denke ich mir, als ich erneut im blitzeblanken Jeep sitze.

Kabir, CLP

In Gaibandha werden wir im Headquarter der Partnerorganisation GUK untergebracht. Ich werde einer Menge Menschen vorgestellt. Der Executive Director Abdus Salam von GUK ringt um Erklärungen, als ich ihn frage, ob die Situation in den Chars durch den Klimawandel beeinflusst ist. „Die Frequenz der starken Fluten nimmt definitiv zu. Wir haben mehr Flusserosionen, die Monsoon-Zeiten kommen nicht mehr zu den erwarteten Zeiten, sondern früher oder später als erwartet.“ Könnte das nicht einfach eine Laune der Natur sein? „Könnte sein, wir haben keine wissenschaftlichen Daten.“ Aha, das ist natürlich schlecht. Und was ist mit den zunehmenden Trockenperioden? „Nicht hier. Hier ist das Problem die Flut, nicht die Trockenheit.“ Nun ja, die Aussage widerspricht eindeutig der von Herrn Momin von heute morgen. Ich bin gespannt, was mir die Char-Bewohner morgen erzählen.

Zunächst jedoch treffe ich Franziska. Sie arbeitet als Freiwillige bei der deutschen Organisation Netz, die ausschließlich hier in Bangladesch tätig ist und mit GUK zusammenarbeitet. Ich begegne ihr im Guesthouse, wo wir beide untergebracht sind, sie allerdings für ein Jahr. Sie wirkt müde, erschöpft und leicht deprimiert. Man hat mir gesagt, sie beschäftige sich mit Klimawandel. Franziska lacht. „Ach Quatsch, ich habe damit nichts zu tun. Aber Klimawandel verkauft sich gut. Meiner Meinung nach hat die Region hier ganz andere Probleme als den Klimawandel. Denen fehlt es an allem: an Elektrizität, Bildung, an medizinischer Versorgung. Die Fluten und Flusserosionen sind hier doch ganz normal. Aber klar, wenn du nach Klimawandel fragst, bekommst du Klimawandel.“ Ehrlich gesagt hatte ich den Eindruck bisher auch. Franziska erzählt mir, dass neulich ein Besuch einer NGO hier im Haus stand, die vor allem in Sachen Klimawandel tätig ist und potentiell Gelder dafür bereitstellen könnte. „Du kannst dir nicht vorstellen, was hier im Haus los war. Die standen drei Tage lang Kopf, um das alles so vorzubereiten, dass es passt.“

Jetzt fällt mir ein Satz ein, den Herr Momin mir auf der Fahrt von Dhaka nach Bogra zugeflüstert hat. Als ich ihm erklärte, dass ich auf der Suche nach Auswirkungen und Anpassungen an den Klimawandel bin und herausfinden möchte, ob die Chars auch betroffen sind oder nicht, antwortete er lachend: „und wenn du herausfindest, dass es nicht so ist: schreibe es nicht!“

Tatsächlich hatte ich bisher große Probleme, verlässliche Daten zur Häufigkeit und Intensität der Überschwemmungen in Bangladesch zu finden. Klimaexperte Atiq Rahman behauptet zwar, die Häufigkeit, Dauer und Intensität der Überschwemmungen habe allein in den letzten 10 Jahren um 12 Prozent zugenommen. Daten dazu konnte er mir allerdings nicht liefern. Auch auf Statistiken von anderen offiziellen Stellen warte ich noch immer.

Headquarter mit Dienstwagen

Ich bin auf den Tag morgen gespannt. Denn dann kann ich mit eigenen Augen sehen, wie das Leben auf den Chars ist, ob die Hilfsprojekte Früchte tragen und ob das Leben dort vom Klimawandel beeinflusst ist.

Eine Dreiviertelstunde fahren wir mit dem Boot, um eine der zahlreichen Chars zu erreichen. Es ist eine gespenstische Landschaft.

Charlandschaft

Karg und flach liegen große und kleine Inseln im Wasser. Die Char, die wir erkunden, heißt Kunder Para Char. Sie misst drei mal 5 Kilometer und existiert seit etwa 20 Jahren. Mit einer Grundschule und einer weiterführenden Schule sowie einigen Buden, an denen man sogar das Nötigsten einkaufen und Tee trinken kann, ist die Insel eine der am besten entwickeltsten in der Region. Schade, dass mich die Projektleiter gerade hierher führen, andererseits war zu erwarten, dass sie mir die besten Ergebnisse präsentieren wollen.

Ich treffe das Vorzeige-Ehepaar des Programms, Mojida und Samad. Die beiden haben vor drei Jahren am Hilfsprogramm teilgenommen. D.h. sie haben Startkapital von umgerechnet 170 Euro erhalten. Davon haben sie sich eine Milchkuh gekauft. Die Milch, die die Kuh brachte, konnten sie im Dorf verkaufen.

Mojida (55) und Jamad (58)

Für die beiden lief es so gut, dass sie Geld sparen und sich inzwischen zwei weitere Kühe kaufen konnten. Außerdem wurde ihre Hütte samt Stall und Garten erhöht. 60 cm über das Level der letzten Flut werden die Häuser der Programmteilnehmer erhöht. Die Hilfsorganisationen bezahlt Arbeiter im Dorf für die Aufbauarbeiten. „Bevor unser Haus erhöht wurde, mussten wir für 2 Monate im Jahr in den Flutschutzbunker, die derzeitige Schule. Jetzt können wir hier bleiben.“ Die beiden kamen vor 6 Jahren auf die Insel. Vorher lebten sie auf dem Festland am Ufer, doch ihr Land erodierte, das Paar wurde landlos. Viele Landlose siedeln an den zum Fluss gewandten Seite der Deiche auf dem Festland. Wegen der Erosionsgefahr will hier niemand leben. Das Land gehört dem Staat.

Auch auf den Chars gehört ihnen das Land, auf dem sie wohnen, nicht. Sogenannte Landlords erheben Besitzansprüche, dulden aber die Bewohner. Eigentlich besagt ein Gesetz, dass jede Char, die neu entsteht, der Regierung gehört, die das Land dann verwalten soll. In der Realität regieren die Landlords das Land auf den Chars.

Mojida kann einen Liter Milch jetzt für 20 Taka, etwa 20 Cent verkaufen.

Mojida versorgt ihre Kühe

Ihr und ihrem Mann scheint es den Umständen entsprechend gut zu gehen. „Wir sind jetzt glücklicher als vorher“, sagt Mojida und blickt verlegen zu Kabir hinüber. Klar, der hört solche Sätze gern. Zum Programm von CLP gehören zum einen die Verteilung von Geldanlagen als Startkapital für den Austritt aus der schlimmsten Armut. Von den 350 Familien im Dorf haben 170 Hilfe von CLP erhalten. Sie werden nach speziellen Kriterien ausgesucht. Sie dürfen zum Beispiel kaum Erspartes besitzen, keine Mikrokreditteilnehmer sein und auch sonst nur wenig Besitz haben.

Neben dem Startkapital und der Erhöhung des Wohnbereiches werden die Projektteilnehmer im Gärtnern geschult. Sie sollen lernen, ihre Gärten ertragreich anzubauen. Das Programm unterstützt besonders Frauen. Sie sollen in ihrer gesellschaftlichen Position gestärkt werden sollen. Das Projekt versucht, ihnen die finanzielle Verantwortung zu übergeben und Wissen zu vermitteln.

Umgerechnet 100 Mio. Euro stehen CLP von 2010 bis 2016 zur Verfügung. Das Hauptprogramm kostet insgesamt 30.1 Mio. Euro. Bleiben noch ca. 69 Mio. Eine Menge Geld, wenn man bedenkt, dass das Hauptprojekt bereits abgedeckt ist.

Zurück zu Mojida und Samal. Von Klimawandel haben die beiden natürlich noch nichts gehört. Allerdings können sie auch nicht bestätigen, dass Fluten oder Regenfälle heftiger werden. „Nein, aber es wird kälter. So kalt wie dieses Jahr war es noch nie.“ sagt Mojida.

Mojida in ihrer Hütte

Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Ich dachte es wird wärmer? Gerade noch vor ein paar Tagen hat mir die Direktorin des meteorologischen Instituts in Dhaka erklärt, dass die Temperaturen hinaufgehen. Stetig. Nun gut. Die Kälte hier hängt wohl auch mit dem Klimawandel zusammen. So wie alles in Bangladesch.

Dann treffe ich Reshma. Sie ist 25 und in ihrem Leben bereits 6 Mal umgezogen. Immer wieder verlor sie alles, als das Land unter ihrer Hütte erodierte.

Reshma (25) mit Garten

Sie ist seit kurzem Teilnehmerin am CLP-Programm. Auch sie hat sich mit ihrem Mann davon eine Kuh gekauft. Doch verdienen kann sie daran noch nicht. Erst, wenn die Kuh Milch gibt, wird sie zum Geschäft.

So lange müssen sie und ihr Mann weiter als Tagelöhner in der Landwirtschaft arbeiten. Gemeinsam verdienen sie 250 Taka am Tag. Das sind etwa 2,50 Euro.

Auf meinem Streifzug durch das Dorf begegne ich einem alten Mann. Sein Name ist Sahamali. Er trägt seinen kleinen Enkel auf dem Arm. Sahamali lebt auf der Char, seitdem es sie gibt. Davor bewohnte er eine Hütte in einem Slum auf dem Festland. Doch auch sein Hab und Gut verschwand bei einer Flusserosion und Sahamli wurde landlos. Dann kam er hierher.

Sahamali (60) mit Enkel

Fluten und Erosionen, Klimaveränderungen, all das scheint für ihn nicht das größte Problem zu sein: „Die Fluten werden weniger, wir haben weniger Überschwemmungen heute.“ sagt auch er. „Aber die Leute sterben hier, wenn sie krank sind. Wir haben keinen Arzt. Und wir können es uns nicht leisten, auf´s Festland zu fahren. Außerdem brauchen wir mehr Schulen. Die Kinder lernen nichts. Die Lehrer sind oft nicht da. Sie kommen manchmal einfach nicht auf die Insel, denn der Weg ist beschwerlich.“

Als wir weitergehen, entdecke ich eine Gruppe Frauen, die im Kreis auf dem Boden sitzt. Als ich mich der Gruppe nähern will, werden meine Begleiter hektisch. „Nein, nein, das ist nichts. Wir gehen weiter.“ Jetzt bin ich natürlich besonders neugierig geworden. Ich schaue mir das Geschehen genauer an. Eine Frau spricht englisch. Sie ist von der Caritas und auf der Insel, um die Frauen in Hygieneverhalten zu schulen. Sie lernen, sich richtig die Hände zu waschen. In der Mitte steht ein Topf Wasser und ein Stück Seife. Nur ein Foto wird mir gewährt, dann zieht Kabir mich weiter. „Wir haben auch Hygieneprogramme“, murmelt er, und schiebt mich vor sich her.

Ich habe genügen Ergebnisse der Hilfsarbeit gesehen. Nun würde ich gerne eine Familie kennenlernen, die es nicht so gut getroffen hat. Man bringt mich zu Kotesa. Doch auch Kotesa ist nicht ganz mittellos. Auf ihrem Dach entdecke ich Solarzellen. Die hat sie durch einen Mikrokredit kaufen können. Über Grameen, dem größten Mikrokredit-Vergeber in Bangladesch.

Kotesa zeigt den Wasserstand der Flut von 2007

Als ich gerade glaube, genug gesehen haben, wird mir Shahina vorgestellt. Shahina ist die Klimawandel-Repräsentantin des Dorfes. Sie wurde von Oxfam (ja, auch die sind hier aktiv!) ausgewählt und nach London eingeladen, um dort über die Folgen des Klimawandels zu berichten. Mir erzählt sie genau das, was ich vermeintlich hören will. Im Gegensatz zu allen anderen behauptet sie, die Fluten würden stärker. Ich frage Kabir, warum die anderen das Gegenteil behaupteten. „Sie wissen es nicht besser. Sie sind ungebildet. Es ist ihr subjektives Empfinden“. Ich bin etwas frustriert. Das einzige, was ich Shahina wirklich abnehme, ist ihre Aussage, dass das Wetter inzwischen unberechenbarer geworden ist. „Man weiß nicht mehr genau, wann der Regen kommt, wie lange es trocken ist und wieviele Fluten es gibt.“ Ich glaube, das ist in der Tat ein Problem.

2km sind bereits erodiert

„Früher endete die Insel dort hinten, auf der anderen Seite des Flusses“, Shahina zeigt in die Ferne. Ca. 2km breite Landstücke sind bereits erodiert. Man rechnet damit, dass die Char in 5 Jahren nicht mehr existiert. „Dann ziehen wir weiter, so war das schon immer.“ lächelt sie.

Ich verlasse die Char mit gemischten Gefühlen und bin verwirrt.

CLP, Caritas, Grameen, Oxfam…Das kleine Dorf ist voll mit Entwicklungshilfe. Bis in diesen entlegenen Winkel Bangladeschs ist das „Business Armut“ bereits vorgedrungen.

Ein Leben auf den Chars ist zweifelsohne beschwerlich und hart. Doch die Hilfe ist angekommen. Die Menschen bekommen Unterstützung. Sicherlich muss noch viel getan werden. Noch immer sind medizinische Versorgung sowie Bildungsmöglichkeiten mangelhaft. Und die größte Gefahr ist die Instabilität der Chars. Wenn das Wetter in Zukunft wirklich extremer wird, Regen, Trockenheit, Flut, Stürme, dann werden die Charbewohner unter den ersten Opfern sein.