Eine Stunde lang schnauft der Bus die Küstenstraße entlang von Tanger nach Ksar es Seghir – obwohl es seit kurzem eine neue Autobahn auf der Strecke gibt. Aber die kostet Mautgebühren, und außerdem führt sie so weit außerhalb an Tanger vorbei, dass es schon wieder ein Umweg ist. Wobei in Tanger alle froh sind, dass sich die vielen LKW’s nun außerhalb der Stadt vorbeischieben.
Ksar es Seghir ist ein Fischerort circa 30 Kilometer östlich des marokkanischen Tanger. Eigentlich gibt es hier nicht viel Besonderes, außer der einzigen ringförmigen Siedlungsanlage in Nordafrika, aus der Zeit der Meriniden (daher auch der Name des Städtchens, der „kleine Burg“ bedeutet). Die Ringsiedlung liegt recht malerisch in der schönen Bucht, ist allerdings mit Stacheldraht eingezäunt und von angeschwemmten Müllbergen eingekreist. Das Bewusstsein für kulturelles Erbe ist hier offenbar (noch) nicht sehr groß.
Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass ein Großprojekt des Königs Mohammed VI. die Aufmerksamkeit der Bewohner von Ksar es Seghir absorbiert: Wenige Kilometer östlich ihres Ortes entsteht der größte Containerhafen des Mittelmeeres. Das geplante Renault-Werk soll dort einen eigenen Kai bekommen. Der Militärhafen ist schon da, etwas westlich von Ksar es Seghir. Und zwischen Stadt und Containerhafen sollen ab April auch die Fähren nach und von Europa eine neue Anlegestelle finden, der alte Fährhafen in der Innenstadt von Tanger wird zu einem Fischerei- und Kreuzfahrthafen degradiert. Die Regierung hat sich für diesen weit von Tanger entfernten Standort entschieden, weil das Wasser tiefer und der Standort windgeschützter ist als der alte Hafen in der Stadt, wo die Fähren wegen der Atlantikwinde schon mal nicht auslaufen können. Und es ging wohl auch darum, der spanischen Exklave Ceuta, die in der Nähe liegt, das Hafenwasser abzugraben.
Allerdings ist von dem neuen Anlegeplatz noch nicht viel zu sehen, wie Tanger Med überhaupt (so heißt der neue Hafen) noch eine Großbaustelle ist. „Chantier interdit“ (Zutritt zur Baustelle verboten) heißt es überall – man braucht eine offizielle Genehmigung, um den Hafen zu betreten. Die haben wir nicht, nur einen findigen Taxifahrer, der uns auf einen Hügel oberhalb der Baustelle fährt: In den Berg ist auf Arabisch „Gott, Nation, König“ geschrieben.
Eigentlich ist es eine idyllische Gegend hier an der Mittelmeerküste – sehr ländlich, Kühe und Ziegen kreuzen die Straße, Allgäu-Atmosphäre. Rund um Tanger Med und Ksar es Seghir allerdings sind die sanften Berghänge abrasiert. Das könnte sich noch rächen, denn im vergangenen, sehr nassen Winter ist die Uferstraße an vielen Stellen unterspült worden und abgesackt. Was, wenn das Wasser künftig überhaupt nicht mehr durch Vegetation aufgehalten wird?
In Ksar es Seghir macht man sich solche Gedanken wohl nicht. Der Taxifahrer zeigt uns voller Stolz die Hafen-Baustelle. Für das Fischerdorf ist Tanger Med ein Segen, denn der Zug und die Busse aus Tanger halten im Moment in Ksar es Seghir. Von dort muss man ein Taxi nehmen – 20 Dirham Hin- und Rückweg, knapp 2 Euro. Für einen marokkanischen Arbeiter ist das eine Menge.
Aber zurzeit haben die Menschen keine Wahl, und so ist das Ortszentrum von Ksar es Seghir voll mit alten, blauen Mercedes-Taxis – ihre Zahl übersteigt deutlich die der Fischerboote im Hafen. Das Städtchen lebt von denen, die dort ankommen und schnell wieder weg wollen, ein wahrhafter Transitort. Bei unserem Gang entlang der Hauptstraße bietet man uns ziemlich bald Drogen an. Die Menschen in Ksar es Seghir kommen schnell zur Sache, scheint es. Denn die meisten, die kommen, sind nur auf der Durchreise. Doch dies ist nur der Anfang eines radikalen Wandels, wie ihn König Mohammed VI. dem ganzen marokkanischen Norden verschrieben hat – Ksar es Seghir wird dafür ein Musterbeispiel sein. Denn wenn demnächst die Fähren aus und nach Europa nicht mehr am alten Hafen in Tangers Innenstadt anlegen, sondern in Tanger Med, dann wird auch eine touristische Infrastruktur gefragt sein. Und Ksar es Seghir und Melloussa sind die beiden Städtchen, die die Reisenden dann mit Hotels und Cafés empfangen sollen. Denn nach der zeitraubenden Mittelmeer-Überfahrt wollen viele eine Pause einlegen. Noch ist allerdings keine einzige Baustelle zu sehen, nichts weist auf den anstehenden Wandel zu einem Touristenstädtchen hin. Während die Fischer ihren heute recht dürftigen Fang ausladen, ziehen im Hintergrund riesige Containerschiffe vorbei: zwei Welten, die sich nah sind und doch (noch) nichts voneinander wissen.
Dina Netz, Tanger, 13.3.2010