Es liegt wohl in der Natur der Sache, dass der Ozean denen, die ihn jeden Tag vor der Tür haben, als nichts Besonderes erscheint.
„Das Meer ist hier ganz in der Nähe, oder?“ frage ich Jean, meinen liberianischen Gastgeber.
„Ja, ja, so zwei Blocks runter“, antwortet er beiläufig.
„Kann man dort schwimmen gehen – oder ist das Wasser zu verschmutzt?“ will ich wissen.
„Nein, kein Problem. Du kannst ins Wasser, falls Dich so was interessiert.“
Das Paradies liegt hinter einer Mauer mit einem türgroßen Loch, und dahinter führen die letzten paar Meter zum Strand über einen kleinen Berg aus spitzen Steinen und Müll. Der Strand selbst ist sauber, viel mehr als manches, was ich schon in der so genannten zivilisierten westlichen Welt gesehen habe. Der Sand ist feinkörnig und leicht rötlich. Ein paar Leute sind hier, aber nicht viele. Da links stehen ein paar liberianische Teenager in kurzen Hosen, von rechts schreiten langsam ein weißer Mann und seine Frau heran, so nah beieinander, dass sie ein Paar sein könnten, aber auch nicht sein müssen.
Im Wasser ist niemand. Ich ziehe die Schuhe aus, kremple die Hosenbeine meiner Jeans hoch und teste die Temperatur aus. Sie ist warm, aber doch erfrischend – und damit so perfekt wie sonst nur die Wellen, die groß und spektakulär sind, aber doch kein bisschen furchteinflößend. Es ist ein friedlicher, zauberhafter Ort. Mir fällt erst nach einigen Minuten wieder ein, dass der Putschist Samuel Doe irgendwo hier am Strand vor mehr als 30 Jahren eine Reihe Regierungsmitglieder exekutieren ließ. Doe, der Mann, auf den die armen Massen hofften, der aber zu einem schlimmen Diktator wurde. Später wurde er gestürzt und zu Tode gefoltert – wobei ein Warlord gemütlich Bier trank, während er Doe die Ohren abschneiden ließ. Der bekannte Teufelskreis in der Geschichte vieler afrikanischer Länder.
Strand und Meer waren immer da – egal, was passiert ist, sie haben unermüdlich ihren Job gemacht, wie auch immer sie von den Menschen behandelt wurden. Ich beobachte, wie das Blau des Meeres und des Himmels ineinanderfließen, getrennt nur durch den weißen Schaum der Wellen. „Der Atlantik will keinen Beifall, für die Gala, die ich sah“, diese Zeilen des Liedermachers Rainald Grebe kommen mir in den Sinn. Und weiter: „Keinen Scheck mit dickem Edding, keinen langen roten Teppich, er ist einfach da.“
Das ist das eigentlich Große am Ozean, er ist nur er selbst. Er muss und soll sich nicht entwickeln wie das Land, zum Wohl der Menschen natürlich, die mit Armut und Arbeitslosigkeit kämpfen. Aber auch für uns aus den reichen Ländern, die wir gern mal wieder eine Erfolgsgeschichte hören würden – und sei es nur gegen das schlechte Gewissen. Man denkt vieles, während man mit den Füßen im Meer steht: manches Kluge, manches Dumme. Manches, wo man es beim besten Willen nicht weiß. Manchmal gelingt es auch, nur aufs Wasser zu schauen.
Als ich meine, die ersten Anzeichen von Sonnenbrand zu verspüren, beschließe ich, zurück zu meinem Apartment zu gehen. Auf dem Rückweg freue ich mich über den feinkörnigen Sand in meinen Schuhen.