„Solange es hier Schiffe gibt, versuche ich es“

Samstagabend herrscht im alten Hafen von Tanger Hochbetrieb, weil dann die meisten Fähren nach Europa abfahren und viele Jugendliche ihr Glück versuchen, das heißt: illegal überzusetzen. Dann kommt es manchmal zu regelrechten Jagdszenen zwischen den jungen Leuten und der Polizei. So hat es mir der Sozialarbeiter Simo erzählt. Um das mit eigenen Augen zu beobachten, habe ich mir für diesen Samstagabend vier marokkanische Begleiter gesucht und lade sie zuerst im Hafen zum Fischessen ein. Außer dass wir äußerst leckeren und frischen Fisch bekommen und zu sechst die Portion für vier Personen kaum schaffen, ist nichts auffällig.

Wir spazieren zu den Schiffsanlegern. Am Anlegeplatz der Fähren nach Italien kommen wir nicht durch die Absperrung – Samstagabend herrschen strenge Sicherheitsvorkehrungen. Die Möwen ziehen schreiend über unsere Köpfe, außer ihnen ist alles gespenstisch still. Wir gehen zur anderen Seite des Hafens, wo die Schiffe nach Frankreich und Spanien abfahren. Dort ist alles so hell ausgeleuchtet wie auf belgischen Autobahnen. Keine Chance, sich irgendwo zu verstecken, sollte man meinen.

Doch dann sehen wir zwei Jungs über den Zaun beim Terminal klettern. Sie kauern sich hinter eine Baracke und warten ab, bis der Weg zum Lkw ein paar Meter weiter frei scheint. Aber sie werden gesehen. Wir erwarten zumindest jetzt eine Jagdszene, aber es passiert nahezu nichts. Der Sicherheitsmann geht mit den beiden zum Ausgang, schickt sie weg. Es wirkt, als hätten alle ein alltägliches Ritual durchgezogen und sich mit „Bis Morgen!“ verabschiedet.

Außerhalb der Sicherheitszone treffen wir einen der Jungs und befragen ihn. Er guckt ein bisschen angespannt, weil er seinen Freund sucht. Aber obwohl die Polizei vorbeifährt, wirken wir nervöser als er. Man merkt, dass er den Hafen gewöhnt ist.

Rédouane heißt er, ist 18, wohnt in Tanger bei seinen Eltern. „Ich habe gerade noch das Barcelona-Spiel zu Ende geschaut. Danach bin ich mit meinem Freund zum Hafen gegangen, wie fast jeden Abend, um nach Spanien überzusetzen.“ Er wird es auch heute Abend noch ein paar Mal versuchen. Nach dem Fußball mal kurz nach Spanien auswandern? Meine Begleiter fragen fassungslos nach.

Viele von Rédouanes Freunden leben in Spanien, und sie haben Fotos geschickt, auf denen sie reich aussehen und Autos haben. Da hat er entschieden, dass er auch nach Spanien will. Seit 2005 versucht er es – 2007 hat er es einmal geschafft und ist in Malaga in ein Auffanglager gekommen. Eineinhalb Jahre war er dort, hatte sogar schon Papiere, erzählt er. Aber dann ist er eines Abends mit marokkanischen Freunden unterwegs gewesen, und sie haben Ärger mit der Polizei bekommen. Die Polizisten nahmen sie fest, verbrannten seine Papiere und schickten alle zurück nach Marokko. Jetzt würde es für ihn in Spanien noch schwieriger, denn inzwischen ist er volljährig – vorher fiel er zumindest theoretisch unter die UNO-Kinderrechtskonvention, die Spanien unterschrieben hat und die die Abschiebung von unbegleiteten Minderjährigen untersagt.

Trotzdem versucht es Rédouane weiter: „Hier gibt es keine Arbeit, keine Zukunft, es ist die Hölle. Hier findet man entweder keine Arbeit, oder man bekommt nur einen Hungerlohn. An einem Tag wird man bezahlt, am nächsten nicht. In Spanien zahlen sie besser als in Marokko. Ich will nach Spanien, um Arbeit zu finden und meine Familie zu unterstützen.“

Sein Bruder tut das schon, von Cádiz aus. Rédouane möchte aber nicht unbedingt zu ihm, die Stadt ist ihm egal, Hauptsache weg aus Marokko. Dreimal hat er es schon zu Fuß auf das Schiff nach Tarifa geschafft, noch öfter unter Lkws. Wenn ihn die Polizei schnappt, verbringt er selten mehr als eine Nacht auf dem Kommissariat. Dass der alte Hafen bis zum Jahresende in einen „Vergnügungshafen“ mit einem Schwerpunkt auf Kreuzfahrtschiffen und Sportbooten umgewandelt werden soll, stört ihn nicht – „so lange es hier Schiffe gibt, versuche ich es“.

Kaum ist Rédouane weg, um seinen Freund zu suchen, schlagen meine marokkanischen Begleiter die Hände über den Köpfen zusammen: „Seit fünf Jahren versucht er nichts anderes als wegzukommen. Was hätte er in seinem Alter in diesen fünf Jahren alles machen können! Fünf verlorene Jahre, wie traurig.“ Sie alle wissen selbst genau, wie schwierig es in Marokko ist, einen guten Job zu finden. Einer ist arbeitslos, zwei studieren, einer arbeitet. Aber sie haben Freunde und Familie in Europa, verfolgen die Medien und wissen auch ganz genau, dass es das Paradies nicht gibt, weder in Europa noch anderswo.

Doch es gibt immer noch genug, die ihre ganze Hoffnung genau auf dieses brüchige Fundament bauen. Ich weiß gar nicht, was ich Rédouane wünschen soll: dass er es schafft, in Spanien für einen Ausbeuterlohn auf dem Feld zu arbeiten? Oder dass er an der Überfahrt scheitert und vielleicht doch noch eine Existenz in Marokko aufbaut? Wir wünschen ihm Glück, das wird er sicher brauchen.

Dina Netz, Tanger, 6.4.2010