Toto ya malaya – Kind einer Hure

„Meine Mutter hat immer Männer nach Hause gebracht. Und da gab es diesen einen, der hat es auch bei mir versucht. Wenn meine Mutter im Pub gearbeitet hat, dann waren wir alleine mit diesem Mann. Ich war etwa 12 damals. Zweimal hat er versucht, mich zu vergewaltigen. Meine Mutter wollte davon nichts hören: „Erzähl das bloß nicht rum“, hat sie gesagt. Also hab ich den Mund gehalten, aus Angst, meine Mutter würde mich bestrafen.“

Seit ich hier bin, hat Sami so gut wie kein Wort gesagt. Die meiste Zeit lauscht sie nur und nickt gelegentlich, während vor allem Lilian und Mary meine Fragen beantworten. Erst als ich fast schon gehen möchte, scheint es ihr plötzlich ein Bedürfnis, mit mir zu sprechen. “Weißt Du, es gibt so viele Männer, die Mädchen wie uns ausnutzen. Sie können dich vergewaltigen, sie können alles mit Dir machen. Denn sie wissen, dass Deine Mutter sich nicht verteidigen kann. Du hast niemanden, der für dich kämpft. Aber jetzt kann ich mich selbst verteidigen. Das haben wir alle hier gelernt.“

Sechs junge Frauen im Alter von 22 bis 25 Jahren sitzen mir gegenüber. Sechs junge Frauen, die alle dasselbe Schicksal eint: Sie sind Kinder von Armutsprostituierten, von Sex-Arbeiterinnen, wie sie es nennen. Und sie alle hat die Arbeit ihrer Mütter zu Außenseitern gemacht. Von der Gesellschaft stigmatisiert, vernachlässigt, verachtet. „Sie haben mich ausgeschlossen, mir beleidigende Namen gegeben, Namen, die klar stellen sollten, dass ich nicht dazu gehöre“, erzählt die 24-jährige Mary.

Toto ya malaya – Tochter einer Hure werden sie gerufen, so als hätten sie gar keine Mutter, als seien sie Kinder zweiter Klasse. Die Leute nehmen sie überhaupt nicht als Kinder mit ganz normalen Bedürfnissen wahr, sondern als ein Problem für die Gesellschaft.“ So beschreibt es Agnes Mailu, die Leiterin von SOLGIDI (Solidarity with Girls in Distress) in Mombasa, die sich seit fast genau 12 Jahren um Mädchen und junge Frauen wie Mary, Sami und Lilian kümmert.

„Töchter von Sex-Arbeiterinnen tragen die größte Last in der Familie. Die Leute übertragen das Verhalten der Mutter automatisch auf sie. Ganz nach dem Motto: Wie die Mutter so die Tochter. Den Mädchen fehlt es am Nötigsten: Essen, ein Dach über dem Kopf, Sicherheit …  meist bekommen sie noch nicht einmal die Liebe ihrer Mutter. Im Gegenteil: Die Mütter sind frustriert, von der Liebe enttäuscht; und das lassen sie dann häufig an den Kindern aus indem sie sie schlagen, missbrauchen oder einfach wegschicken. Sie können nicht für sie sorgen.“

So bleiben die Töchter auf sich alleine gestellt, müssen in der Regel viel zu früh selbst erwachsen werden. „Oft werden diese Kinder in irgendwelche dubiosen Geschäfte reingezogen. Das kann Drogenhandel sein, das können aber auch sexuelle Aktivitäten sein; in einem zarten Alter, einfach, um zu überleben. Sie haben ja keinen Schutz, niemanden, der sie an die Hand nimmt. Und die Gesellschaft denkt, sie könnte einfach über diese Kinder verfügen, ist ja niemand da, der mir das verbietet.“

30.000 Kinder werden jeden Tag in der kenianischen Sexindustrie ausgebeutet. So lautet zumindest eine Schätzung des „Ministry of Gender, Children’s Affairs and Social Development“ und der NGO „Eradicate Child Prostitution in Kenya” aus dem Jahr 2012. UNICEF kommt im selben Jahr zu dem Ergebnis, dass sich allein in den Küstenregionen Kenias 10-15.000 Kinder prostituieren.

Dieses Schicksal soll den Mädchen bei SOLGIDI erspart bleiben. Ähnlich wie bei den „Young Mothers Kenya“ bekommen sie auch hier eine neue Chance. „Wir machen ihnen klar, dass auch ihr Leben einen Sinn hat und dass dieser nicht darin besteht, den Weg ihrer Mütter einzuschlagen. Wir geben ihnen Raum, sich zu entfalten, zu einem respektierten und  produktivem Mitglied der Gesellschaft zu werden und Dinge zu verändern“, erklärt Agnes und ich stelle mir vor, wie die Überzeugungskraft, die in ihrem Gesicht funkelt, auch den Mädchen neue Hoffnung gibt.

Zur Hilfe, die SOLGIDI leistet, gehört Einzel- und Gruppentherapie genauso wie die finanzielle Unterstützung bei der Schulausbildung. „Selbst wenn z.B.  die Grundschulausbildung offiziell umsonst ist, bleiben da immer noch die Kosten für Anmeldegebühr, Uniform und Schulbücher. Wir reden hier von Frauen, die weniger als einen Dollar am Tag verdienen. Wo sollen die das hernehmen? Manche kriegen gerade mal 50 Shilling vom Mann. Oder eine Packung Mehl oder etwas zu essen; so herabwürdigend und furchtbar ist dieser Job. Und  wenn ich mir kein Essen leisten kann, kann ich mir erst recht keine Schule leisten.“

Das übernimmt SOLGIDI. Mehr als 500 Mädchen haben durch sie bis heute ihren High School Abschluss gemacht. Einige schaffen es bis an die Uni.

Auch die 24-jährige Mary verdankt SOLGIDI ihr Studium. Das, und auch das früher völlig unbekannte Gefühl, geachtet, ja sogar bewundert zu werden. „Ich bin jetzt gebildet und ich bin vorzeigbar. Uns werden sogar Führungspositionen in unserer Community angeboten. Man schätzt uns. Und wir sind plötzlich Vorbilder. Sie sehen, dass jemand wie ich es bis zur Uni geschafft hat und das ist ein gutes Beispiel für die Kinder.“

Mithilfe von Agnes und dank vieler Gesprächsrunden und Therapiesitzungen hat sich bei der ein Jahr älteren Lilian zudem die Beziehung zur Mutter verbessert. „ Mir hat es sehr geholfen, dass alle Töchter und Mütter sich gemeinsam austauschen können. Das  ist wie eine Plattform. Sie sagen, was wir ihrer Meinung nach falsch machen und wir sagen, was wir uns von ihnen wünschen, das sie tun oder eben nicht mehr tun sollen. Auf diese Weise können wir über Sachen diskutieren, die uns Zuhause betreffen, über die wir dort aber alleine nicht sprechen.“

Vier oder fünf Jahre ist es her, dass ihre Mutter eine Sex-Arbeiterin war, erzählt Lilian. Schlecht habe sie sie behandelt damals. Lilian flüstert fast, als sie das sagt. Und trotzdem kann sie ihre Mutter inzwischen zumindest etwas besser verstehen. „In der Therapie kommt ein Punkt, wo Du die Chance hast, Dich selbst als Mutter zu betrachten. Was hättest Du gemacht? Das hilft ein bisschen beim verstehen. Ja, sie hat dies und das getan, aber es war der Frust über das, was sie durchmachen musste, der sie dazu getrieben hat, so zu werden. Und es kommt der Moment, wo du Dir vielleicht das Herz fassen kannst, zu verzeihen; weil du die Chance bekommen hast, beide Seiten der Medaille zu sehen.“

An diesem Nachmittag treffe ich auch Pamela und Zainab. Die andere Seite der Medaille. Zwei Mütter. Beide ehemalige Sex-Arbeiterinnen. Beide aus der wirtschaftlichen Not in die Prostitution getrieben. Und beide damals ohne Respekt vor Ihren Kindern.

„Ich habe meine Kinder geschlagen. Meinen ganzen Frust habe ich an ihnen ausgelassen.“ Pamela Aching kämpft mit den Tränen während sie mir ihre Geschichte erzählt. Ihre Mimik reflektiert die aufgewühlten Gefühle. Die Kinder waren gerade acht, 14 und 16 als der Mann sich von Pamela scheiden ließ. Das Grundstück hatte er zuvor verkauft, Pamela stand vor dem Nichts. Die Verzweiflung trieb sie in den Alkohol und sie fing an als Bardame zu arbeiten. Den eigenen Schmerz übertrug sie auf die Kinder. Erst bei SOLGIDI lernte sie wieder, was es heißt, eine Mutter zu sein und sie fasste den Mut, ihr Leben umzukrempeln. Die Trauer in Pamelas Gesicht weicht auf einmal dem Stolz als sie darüber spricht. Heute hat sie ein kleines Altkleidergeschäft, das Verhältnis zu den Kindern hat sich verbessert und sie hat sogar die vierjährige Nichte bei sich aufgenommen, als im vergangenen Jahr die Schwester starb. Aus der verzweifelten Frau ist eine selbstbewusste alleinerziehende Mutter geworden.

Genau wie bei  Zainab, die mir gegenüber ihren Wandel so rührend in folgende Worte gefasst hat:

„Ich bin jetzt eine Frau. Eine stolze Frau. Früher war ich eine Toilette, die jeder benutzen konnte, wenn er nur Geld hatte. Das ist jetzt anders. Jetzt bin ich eine Madame.“