Zwei „deutsche Kenianerinnen“ – Teil 1

Eigentlich wollte ich ja bloß ein Fußballspiel sehen. Henry hatte mir erzählt, dass bei ihm im Dorf die Schulen ein Turnier veranstalten und das konnten wir uns – Gustav, der gerade  an der Küste Urlaub macht und ich – natürlich nicht entgehen lassen. Schließlich sind wir beide große Fußballfans und da schon unser geplanter Abstecher in die kleine Dorfkneipe zum Champions-League-Rückspiel zwischen Bayern und Arsenal im wahrsten Sinne des Wortes eingeschlafen war (Zeitverschiebung und so…) wollten wir uns eben auf diese Weise unsere kleine Dosis Live-Fußball zu Gemüte führen. Ist ja im Grunde auch viel viel spannender als die Langweiler-Bayern.

Als wir aus dem Auto steigen – aus der nahen Ferne dringt schon die typische Atmosphäre einer Sportveranstaltung ans Ohr, die mich gleichzeitig an diese Sommertage aus der Schulzeit erinnert, an denen man schon von weitem fröhliches Gejohle aus dem Freibad hören konnte – nimmt uns die freundliche Josephine in Empfang und führt uns schnurstracks in das vor uns liegende Gebäude. Apropos Kindheitserinnerungen! Plötzlich stehen wir mitten im Dschungelbuch. Gegenüber, links, rechts… von jeder Wand grüßen überlebensgroße Figuren aus dem beliebten Kinderbuchklassiker. Wir befinden uns im Mädchen-Trakt des Niceview-Kids-Waisenhauses. Waisenhaus, das klingt so traurig, so trostlos und ungerecht. Aber keine dieser Assoziationen mag so recht zu dem passen, was uns an diesem Tag hier begegnet. Dazu wiederum passt, was die Gründerin dieses Kinderdorfes, Gudrun Dürr, uns erzählt hat: „Alle sagen immer ‚Deine Kids sehen auf jedem Foto so glücklich aus. Da braucht ihr doch eigentlich gar keine Spenden mehr‘.“ – Sonderbare Logik.

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Josephine führt uns durch jedes Zimmer. Etwa fünf oder sechs Kinder sind jeweils gemeinsam untergebracht, in den  Räumen der Jüngeren übernachtet zudem eine Betreuerin, eine „Mama“, wie sie hier heißen. Jeder einzelne Raum, ob Schlafsaal, ob Badezimmer, ob Gemeinschaftsraum, Essbereich oder selbst die Klassenräume der eigenen Schule: in wirklich jedem entdecken wir irgendwelche liebevollen Details;  Kleinigkeiten, die die Atmosphäre so freundlich-einladend machen und Geborgenheit ausstrahlen.: Ein Reihe Kuscheltiere hier, lustige Zeichnungen, Malereien oder Aufkleber dort. Und alles so unglaublich aufgeräumtund sauber, ohne dabei jedoch steril zu wirken.

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49 Kinder leben zurzeit hier. „Ursprünglich dachte ich, dass ich vielleicht mal zehn Kinder aufnehmen würde. Ich hätte nie geglaubt, dass es einmal so viele werden“, erzählt Gudrun, die Gründerin des Projekts Schwarz-Weiß, zu dem das Nice-View-Kinderdorf gehört.

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Dass Gudrun Dürr vor über zehn Jahren überhaupt in, Msambweni, dem kleinen Dorf an der Südküste Kenias, gelandet ist, nennt man wohl Schicksal. Oder Zufall. Oder Fügung. Oder alles zusammen. „Wir haben früher eigentlich immer Wohnmobilurlaub gemacht, wollten dann aber einmal eine Flugreise unternehmen. Ich sollte das Ziel aussuchen und habe mir Isla Margerita gewünscht. Mein Mann hat Kenia gebucht. Und schon bei unserem ersten Besuch, damals an der Nordküste, hab ich gewusst: Das ist mein Land.“  Die Dürrs kamen wieder, diesmal  in den Süden. Beim Spaziergang fand Gudrun das Grundstück und wusste sofort: Das ist mein Platz. „Wir haben das gekauft, ohne groß zu zögern oder auch nur Preise zu vergleichen.“ Schließlich habe sie immer gewusst, dass sie „mit 40 mal was Soziales“ machen würde, erklärt Gudrun.

1999 zog sie dann mit zwei ihrer drei Kinder – die Tochter damals 11, der Sohn 2 –  hierher. „Pascal ist unser weißer Kenianer“, erzählt die 53-Jährige. Er spricht nicht einmal Deutsch, er versteht es zwar, aber er redet mit mir nur Englisch. Und mit den Anderen spricht er Kisuaheli.“ Als ich den jungen Mann später auf dem Sportplatz und beim Essen live erlebe, muss ich innerlich schmunzeln. Spontan kommt mir der Film „Der Wolfsjunge“ von Truffaut in den Sinn. Und das meine ich kein bisschen despektierlich. Es ist eher die Lebensfreude, die innere Zufrieden- und Naturverbundenheit, die der athletische Junge mit der blonden Lockenmähne ausstrahlt. Selbst beim Sport trägt er in der schwülen Hitze einen schwarzen Rollkragenpulli unter seinem Trikot. Ich hingegen stehe ein paar Meter weiter  unter einem großen Baum und habe das Gefühl, so langsam zu schmilzen.

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65 Kinder haben das Nice-View-Kinderdorf seit der Gründung durchlaufen. Sie alle seien für sie wie ihre eigenen Kinder, sagt Gudrun. Ein einziges Mal ist ein Kind gestorben. „Aber da hatten wir einfach keine Chance mehr. Ansonsten hab ich alle durchgebracht, sogar die kleine Jolene, bei der alle gesagt haben, ‚die ist so unterernährt, die schafft es nicht‘.“ Notfalls nimmt Gudrun ein Baby in den ersten Monaten sogar einfach zu sich nach Hause, bis es nachts nicht mehr schreit.

Die meisten der Kinder hier wurden ausgesetzt. In Niceview durchlaufen sie die Grundschulausbildung gemeinsam mit anderen Kindern aus der Nachbarschaft. Aber auch danach versucht Gudrun, für sie da zu sein. „Ich hatte ein paar Mädels, denen hab ich gesagt, wenn sie 350 von 500 Punkten in der Abschlussprüfung schaffen, dann zahl ich ihnen die Secondary School.“ Ist ganz schön teuer geworden diese Wette für sie.

Um in Niceview selbstständig Einkünfte zu generieren, gibt es inzwischen sogar eine Schreinerei. Außerdem würde Gudrun gerne den Bau eines eigenen Krankenhauses fortsetzen. Vielleicht wäre irgendwann sogar eine Touristenlodge denkbar. „Wenn ich einmal nicht mehr bin, soll das hier ja weitergehen. Wir wollen etwas weitergeben, im Kleinen was verändern.“ Der Weg ist lang und oft ist Geduld gefragt. „Ich  habe z.B. Jahre gebraucht, um durchzusetzen, dass die Lehrer die Kinder nicht mehr schlagen. Seit vielleicht sechs Monaten funktioniert das jetzt auch wirklich.“

Die Zeit verfliegt, während Gudrun Dürr uns ihre Geschichte erzählt. Gleich ist Anstoß beim Finale der Frauen. Auf eine Spielerin solle ich ganz besonders achten: Die 12-jährige Lea ist der Star der Mannschaft. Beim letzten Mal habe sie gleich zwei Tore geschossen und auch sonst sei sie unheimlich athletisch. Auch bei den Jungs gäbe es einige hoffnungsvolle Talente, erzählt Henry später. Er war früher selbst Fußball-Spieler und träumte von einer Profi-Karriere in Europa. Bis  Korruption und dubiose Geschäftemacher seinen Traum zerplatzen ließen. Einer seiner ehemaligen Mitspieler in Nairobi, McDonald Mariga,  hat es zum FC Parma  in die Serie A geschafft. Damals war er besser als Mariga, sagt Henry und ein kleines bisschen merkt man ihm die Enttäuschung auch heute noch an. Jetzt hofft er eben, dass es anderen Jungs besser ergehen wird als ihm. Vier Spieler aus Niceview hat er schon im Auge. Henry würde sie gerne unterstützen und vielleicht irgendwann mal managen. Fair und ehrlich. Denn auch darum geht es bei Niceview: Talente entdecken und fördern. Im Speisesaal zum Beispiel habe ich die Gemälde eines 15- oder 16-Jährigen gesehen, die gut und gerne auch in den Boutiquen von Nairobi zum Verkauf hängen könnten. Der Junge geht mittlerweile auf die High School.

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Das Spiel endet 2:0 für Leas Mannschaft. Das Finale der Jungs müssen wir leider verpassen. Es ist spät geworden und wir fahren zurück in unsere Lodge. Die Bayern hatten übrigens – wie nicht anders zu erwarten – mit einem 1:1 gegen Arsenal das CL-Viertelfinale erreicht. Aber was bitte heißt das schon im Vergleich zu dem, was Gudrun Dürr und ihre Helfer hier geschafft haben!