Mehr als drei Wochen sind vergangen, seit ich in Salvador da Bahia angekommen bin. Der Alte, der auf dem Mäuerchen neben dem Zeitungskiosk seine Waren ausbreitet, hat von Regenschirmen auf Weihnachtskugeln umgestellt: je zwei oder vier in Plastik eingeschweißt, knallbunt und mit viel Glitzer. Die Kassiererinnen im Mini-Markt tragen schon morgens um sieben, bei 30 Grad im Schatten, rot-weiße Nikolausmützen. Ich habe so viel zu erzählen – womit fange ich an? Mit dem Porträt einer der beeindruckendsten Personen, die ich in Salvador bisher getroffen habe.
Cleidiana Ramos ist „Spezialreporterin“ bei der Tageszeitung A Tarde. Sie ist in der Redaktion bekannt als eine Art lebendes Lexikon, was afrobrasilianische Religion und alle Probleme und Debatten in Sachen Rassengleichheit und Rassismus in Brasilien betrifft. Der Vertrag als „repórter especial“ ist ein großes Privileg, das hier nur wenige haben. Er bringt Cleidiana nicht nur ein vergleichsweise hohes Einkommen. Er ermöglicht es ihr auch, nur ein bis zwei Artikel pro Woche zu schreiben – dafür über die Themen, die sie wirklich interessieren, und mit gründlicher Hintergrundrecherche. Nebenbei betreibt Cleidiana, im Namen der Tarde, den Blog Mundo Afro, auf dem sie wichtige Ereignisse aus der afrobrasilianischen Kulturszene bekanntmacht. Sie ist redaktionell verantwortlich für die Kolumne einer Candomblépriesterin, die alle vierzehn Tage auf der Meinungsseite der Tarde erscheint. Und als ob das alles nicht schon genug wäre, verantwortet Cleidiana auch die jährliche Sonderbeilage zum Tag des Schwarzen Bewusstseins, zum ersten Mal erschienen im Jahr 2003 und seitdem mehrfach mit Medienpreisen prämiert. Wie Cleidiana Ramos zu dieser wichtigen Persönlichkeit in der Medienwelt Bahias wurde, ist eine Geschichte, die viel über sie sagt, aber auch über das Thema Rassismus in Brasilien.
Anfang des Jahrtausends hatte die Tarde finanzielle Schwierigkeiten. Die Konkurrenz war stärker geworden, das Internet wurde wichtiger, die Auflage sank. Man begann einen redaktionellen Umgestaltungsprozess. Ein externer Trainer kam in die Redaktion, er sollte versuchen, mit den Reportern neue Formen zu finden und die Qualität der Artikel zu verbessern. Eines Tages machte eine Wirtschaftsreporterin den Themenvorschlag „Rassismus in Bahia“. Sie wollte anhand von Daten wie etwa Arbeitslosenstatistik, Einkommensverteilung und Alphabetisierungsrate einen Artikel über die Situation der Afrobrasilianer in Bahia schreiben – benachteiligt in all diesen Bereichen, obwohl mit ca. 80% die deutliche Mehrheit der Bevölkerung. „Lasst uns das direkter angehen“, sagte der Trainer. „Ich will, dass Ihr auf die Straße geht und selbst überprüft, ob es hier Rassismus gibt oder nicht.“ Cleidiana war damals seit vier Jahren Reporterin, und arbeitete zu allen möglichen Themen. Für diese Recherche wurde sie wegen ihrer Hautfarbe ausgewählt. Zusammen mit zwei Kollegen zog sie Richtung Shoppingcenter los. Gilson Jorge, ein männlicher Reporter, dunkelhäutig, mit Afrokrause. Sie selbst, mittelbraune Hautfarbe, schwarze, lange Krisselmähne. Und Manuela Barros, eine hellhäutige Kollegin, blond, „so richtig topmodel-mäßig“, lacht Cleidiana.
„Es waren total verrückte Situationen. Gilson und ich sind zum Beispiel in einen Juwelierladen hineingegangen, als Paar quasi. Wir haben bestimmt fünf Minuten herumgestanden, die Verkäuferin kam nicht mal in unsere Nähe. Dann kam eine Frau rein, hellhäutig, mit teuren Klamotten. Und stellte sich einfach vor uns. Die Verkäuferin kam sofort zu ihr. Als würden wir nicht existieren.“
Dann ging Cleidiana mit Manuela, der hellhäutigen Kollegin, in eine Männerboutique. „Vier Verkäufer kamen sofort auf Manuela zu. Uns wurden Sitzgelegenheiten angeboten, Manuela sagte, sie wollte ein Geschenk für ihren Freund kaufen. Ich wurde nicht mal gefragt, ob ich auch etwas kaufen wollte! Ich habe mich gefühlt wie eine Haussklavin, die die große Dame begleiten darf.“
Zurück in der Zeitungsredaktion, erkannten die Kollegen, dass dieses Material das Potenzial hatte, mehr zu sein als einfach nur eine Begleitreportage zu den offiziellen Daten. Die Redaktion beschloss, ein ganzes Sonderheft zum Thema Rassismus zu machen. „Welche Hautfarbe hast Du?“ war der Titel dieses ersten Heftes, das am 20. November 2003 erschien. Und Cleidiana war eine der wichtigsten Personen im Team – es schien, als habe sie ihr Thema entdeckt. „Wir wollten versuchen zu erklären, warum die Hautfarbe hier so sehr die Vorstellungswelt der Menschen bestimmt. Dafür mussten wir nach den Wurzeln dessen graben, was in Brasilien den Rassismus konstruiert hat. Also haben wir Artikel über den wissenschaftlich begründeten Rassismus gemacht, über die Zeit der Sklaverei, und so weiter und so fort.“ Ganz abgesehen von der Reportage über den Selbstversuch im Shoppingcenter – geschrieben in Ich-Perspektive.
Auf jeder Seite dieser ersten Sonderbeilage wurde außerdem eine Person mit Foto und Zitaten vorgestellt, die erklärten, welche ihre Hautfarbe ist. „Die Leute haben die verrücktesten Sachen gesagt: milchkaffeefarben, bonbonbraun, moreno, mulato, mulatinho… All das, weil sie eins nicht sagen wollten: negro.“
Für Cleidiana war diese Rechercheerfahrung ein Art Augenöffner. Sie stammt aus Iaçu im Landesinneren von Bahia, etwa 300 Kilometer von der Hauptstadt Salvador entfernt. Ihr Vater, der sich selbst als „negro“ bezeichnete, bestimmte viele Jahre als Bürgermeister einer linken Partei die Geschicke ihrer Heimatstadt. Trotzdem, sagt Cleidiana, hatte sie bis dahin kein Bewusstsein für das Thema Rassismus entwickelt.
„Die Tendenz der Familien auf dem Land war und ist: Je mehr wir uns von der Vergangenheit entfernen können, also von unseren Sklaven-Vorfahren, desto besser. Ich habe zum Beispiel eine sehr hübsche Cousine, die hat einen dunkelhäutigen Mann geheiratet. Da hat sich die Familie das Maul zerrissen: Wie kann es sein, dass so ein hübsches Mädchen so einen Schwarzen heiratet – anstatt ‚ihren Bauch zu säubern‘. Ja, ‚den Bauch säubern‘. Das ist ein gebräuchlicher Ausdruck da auf dem Land. Soll heißen: einen Weißen heiraten, um die Hautfarbe der Familie aufzuhellen. Je weißer Dein Kind, desto besser!“
Mit wachsender Berufserfahrung begann Cleidiana, sich bei der Schwarzenbewegung zu engagieren. Sie entdeckte außerdem den Candomblé für sich, ist heute filha de santo in einem der ältesten Candomblé-Häuser von Salvador. Nach ihrem Journalistikstudium machte sie einen Master in Ethnologie, und im Augenblick schreibt sie an ihrer Doktorarbeit über religiöse Volksfeste in Salvador. Cleidiana nennt sich mit Stolz „negra“. Und sie fordert, dass jeder Brasilianer mit nicht-weißer Hautfarbe sich mit seiner Vergangenheit und seiner Identität auseinandersetzt.
„Du musst keine Kleider mit afrikanischer Ästhetik tragen. Du musst keine ‚Black Power‘-Frisur haben. Nichts davon ist nötig. Du darfst nur nicht in die Neurose verfallen, etwas sein zu wollen, das du nicht bist. Wenn du anfängst, dich selbst zu verleugnen, um akzeptiert zu werden, wird es zum Problem. Denn du wirst nie weiß sein.“
Nun ist es für Schwarze in Brasilien heute nicht leicht, ein positives Selbstbild zu entwickeln – denn bis auf Ausnahmen fehlen die Vorbilder. Im Fernsehen sind so gut wie keine Schwarzen zu sehen, und wenn, dann meist in Rollen wie der des Dienstmädchens oder des Chauffeurs. Alle Schulen in Brasilien sind seit 2003 per Gesetz verpflichtet, afrobrasilianische sowie afrikanische Geschichte und Kultur in den Lehrplan aufzunehmen. Kritiker sagen, nichts davon finde wirklich statt.
Auch deshalb wendet sich das diesjährige Sonderheft zum Tag des Schwarzen Bewusstseins bewusst an Kinder. In kurzen Artikeln erzählen Cleidiana und ihre Kollegen von der Kindheit heute wichtiger afrobrasilianischer Persönlichkeiten. Sie lassen Kinder aus afrikanischen Ländern, aus Brasilien und aus anderen ehemaligen Kolonien ihre eigenen Geschichten erzählen. Und sie zeigen Fotos von glücklichen Kindern, mit Afrokrause und dunkler Haut.
„Als ich die letzten Seiten abgenommen hatte, habe ich geweint“, sagt Cleidiana. „Denn als ich das Layout gesehen habe, wurde mir klar, dass wir solche Kinder in der Zeitung sonst immer nur im Zusammenhang mit Armut sehen. Wenn es um die Dürregebiete im Landesinneren geht, oder um die Quilombos, die ehemaligen Sklavenfluchtburgen. Wir sehen sie nie in einem positiven Setting. Jetzt könnte man sagen, wir machen hier inhaltslosen Blödsinn, journalistisch gesehen. Aber genau diese ganz einfachen Dinge haben die größte symbolische Kraft.“