„Um halb acht Uhr morgens gab es einen Polizeieinsatz im Viertel. Mein Sohn war draußen auf der Straße. Er wurde an Händen und Füßen gefesselt und bekam eine Kapuze über den Kopf gezogen, und dann wurde er in ein Auto ohne Polizeiabzeichen oder ähnliches geworfen. Zeugen haben aber Autos der Militärpolizei in der Nähe gesehen.“
So wird Rute Fiúza in unzähligen Zeitungsartikeln der vergangenen Wochen zitiert. Ihr Sohn Davi, 16 Jahre alt, Einwohner von São Cristóvão, Stadtteil von Salvador da Bahia in unmittelbarer Nähe des Flughafens, ist seit nun fast acht Wochen spurlos verschwunden. Das Schlagwort „Cadê Davi?“, „Wo ist Davi?“ ist in aller Munde. Bei Facebook, Twitter und in den lokalen Medien wird es von einer Aktivistengruppe verbreitet, die sich „Reaja ou será mort@“ nennt, „Reagiere oder Du wirst getötet“, und mit der brasilianischen Schwarzenbewegung verbunden ist. Die Aktivisten unterstützen Davis Mutter und andere Eltern verschwundener Jugendlicher bei der Suche nach ihren Kindern, bei Amtsgängen und bei Aktionen, die Öffentlichkeit für diese Fälle herstellen sollen.
Rute Fiúza hat bereits eine Odyssee hinter sich. Sie legte Beschwerde ein bei der Beschwerdestelle der Polizei, ging zur Staatsanwaltschaft, suchte in der Gerichtsmedizin und in Gefängnissen nach ihrem Sohn, und sie reiste nach Rio de Janeiro, um sich mit Vertretern von Amnesty International zu treffen. Amnesty International hat mittlerweile eine internationale Kampagne zum Fall Davi Fiúza gestartet, und an die Behörden in Bahia appelliert, den Fall aufzuklären.
Laut Zeitungsberichten in Bahia hat die Militärpolizei den Fall untersucht, und kam zu dem Schluss, es gebe nicht genug Beweise dafür, dass die Polizei für das Verschwinden des Sechzehnjährigen verantwortlich sei. Nur einer von 17 gehörten Zeugen habe ausgesagt, das gesehen zu haben, was Rute Fiúza berichtet. Der Fall wurde an die Zivilpolizei weitergegeben, und von dort an die Mordkommission. Da liegt er nun, und die Berichterstattung wird spärlicher.
Nach den neuesten Daten des brasilianischen Bundesamts für Statistik, IBGE, sind im Jahr 2013 im Bundesstaat Bahia 3.407 Menschen zwischen 15 und 24 Jahren gestorben. Davon 2.668 durch Gewaltanwendung, also knapp 80 Prozent. Damit steht der Bundesstaat Bahia an zweiter Stelle im Land. Ein wichtiges Detail: Von den unter dreißigjährigen Toten durch Gewaltanwendung ist in ganz Brasilien nur etwa jeder fünfte (23%) weiß. Das ergeben die regelmäßigen Erhebungen der FACSO, einer unabhängigen länderübergreifenden Organisation, die jährlich eine „Landkarte der Gewalt“ für Brasilien herausgibt. Die „Vernichtung der schwarzen Jugend“, extermínio dos jóvens negros, ist ein bereits feststehender Ausdruck, den brasilianische Politiker immer wieder als einen von vielen Punkten auf der Agenda der Sozialpolitik nennen.
Wie viele dieser Morde nun durch die Polizei verübt werden, ist eine schwierige Frage. Nach Angaben der NGO Fórum Brasileiro de Segurança Pública hat die Polizei in Brasilien in den vergangenen Jahren im Schnitt sechs Menschen pro Tag getötet. In nur fünf Jahren summierten sich so im ganzen Land 11.197 Tote durch Polizeigewalt – zum Vergleich: Nach Angaben der NGO sind das mehr Tote durch Polizeigewalt als in den gesamten USA im Verlauf von 30 Jahren.
Rute Fiúza wird irgendwann verstummen, meint ein Journalist der Zeitung A Tarde, der schon viele dieser Fälle begleitet hat. „Die meisten Eltern von verschwundenen Jugendlichen geben irgendwann auf.“ Weil sie bedroht werden – auch Rute Fiúza hat bereits Schutz der Behörden gefordert, weil sie sich beobachtet fühlt –, und weil ihnen die Energie ausgeht. Nur ein sehr geringer Prozentsatz der Fälle von mutmaßlicher Polizeigewalt führt laut NGOs in Brasilien zu Gerichtsprozessen. In den seltensten Fällen werden Polizeibeamte entlassen.
Rute Fiúza, ihr Mann und ihre Tochter werden Weihnachten dieses Jahr ohne Davi feiern.