Wie ein dicker, kräftiger Stamm zieht sich die Bole Road durch Addis Abeba. Schmalere Straßen zweigen ab und verteilen die etwa dreieinhalb Millionen Einwohner der Hauptstadt Äthiopiens in alle Richtungen. Holprige Pisten bringen sie in die letzten Wipfel der Stadt – manchmal allerdings nur noch zu Fuß.
Besucher bekommen von ihnen aber erst einmal nichts zu sehen. Denn es ist die Bole Road, die direkt vom Flughafen ins Zentrum führt. Bei meiner Ankunft, sonntags um sieben Uhr morgens, teilen sich nur wenige Taxibusse, SUVs und klapprige Gebrauchtwaren die teilweise vierspurige Hauptstraße. Mit Warnwesten gewappneten Arbeitern bietet dies die seltene Gelegenheit in kleinen Grüppchen den Asphalt zu kehren.
Halbfertige Betongerippe säumen die Straße. Niemand turnt zu dieser Stunde auf den hölzernen Gerüsten, um Addis Abeba weitere Hotels, mehrstöckige Wohnhäuser, Einkaufszentren und noch mehr jener repräsentativen Bauwerke zu verschaffen, die international haben aufhorchen lassen. So fährt hier seit diesem Sommer die erste Straßenbahn Afrikas südlich der Sahara.
In Sichtweite führt die Tramlinie vorbei an einem alten, heruntergekommen Bahnhof. Würde er nicht bald restauriert werden, könnte er stehen bleiben als historisches Museumsexponat, das zeigt, welch weiten Weg das ostafrikanische Land zurückgelegt zu haben scheint.
Ende des 19. Jahrhunderts begann der Bau der Eisenbahnstrecke. Damals war Äthiopien eine Ausnahme in Afrika. Die Grenzen benachbarter Länder wie dem heutigen Sudan, Kenias oder Somalias zeugen von den groben Strichen, die die Kolonialmächte einst auf der Karte des Kontinents gezeichnet haben. Äthiopien jedoch haben sie nie unter ihre Kontrolle bringen können. Unter der Führung der äthiopischen Kaiser blieb es unabhängig – abgesehen von der fünf-jährigen Besatzung durch Italien vor dem zweiten Weltkrieg.
Hungersnöte und eine protestierende Studentengeneration schufen 1974 eine politische Stimmung, die das Militär für sich nutzte und mit einem Putsch eine fast 1000 Jahre alte Thronfolge zu einem abrupten und ruhmlosen Ende brachte. Darauf folgte Terror: 18 Jahre, in denen Kritiker des sozialistischen Regimes in Kerkern verrotteten oder den Hyänen zum Fraß vorgeworfen wurden. Und weiterhin hungerten Menschen auf dem Land zu Tode.
Erneut war das einer der Gründe, die das Regime 1991 kollabieren ließ und Äthiopien in ein neues Kapitel führten: das einer wirtschaftlichen Öffnung und vorsichtigen Demokratiesierung mit beachtlichen Fortschritten. In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich die Kindersterblichkeit halbiert und die Zahl der Grundschulkinder vervierfacht. Durchschnittlich wuchs die Wirtschaft in den vergangenen zehn Jahren mit Raten von rund zehn Prozent. In Deutschland beispielsweise waren es im gleichen Zeitraum nur etwas mehr als ein Prozent.
Die äthiopische Regierung muss allerdings auch das Versprechen einlösen, den Staat überhaupt erst aus der Armut herauszuführen. Vor allem auf dem Land, jenseits der Hügel, an die Addis Abeba grenzt, lebt fast ein Drittel der 97 Millionen Menschen des Landes unterhalb der Armutsgrenze.
Die meisten von ihnen sind einfache Bauern. In den Wirtschaftsplänen des Landes ist nun jedoch das verarbeitende Gewerbe nach oben auf die Agenda gerückt – insbesondere die Textilbranche. Mittlerweile lassen Unternehmen wie H&M und Primark einfache Kleidungsstücke produzieren.
Deshalb bin auch ich nun hier: Ich frage mich, ob ein Land wie Äthiopien, das Baumwolle anbaut, es schaffen kann, jene Ressourcen nicht unverarbeitet auf den Weltmärkten zu verscherbeln. Das erklärte Ziel jedenfalls ist eine Industrie, die Arbeitsplätze und Wohlstand mit sich bringt. Aber kann das wirklich gelingen, wenn Äthiopien damit wirbt, asiatische Billiglohnländer auch noch zu unterbieten?
Jetzt jedoch, während ich darüber vor Ort recherchiere, kreisen viele Gespräche erneut um ein Übel, das Äthiopien längst hinter sich gelassen haben wollte. Wieder hungern Menschen zu Tode, weil mancherorts die Ernte ausgefallen ist. In Teams scharen Hilfsorganisationen in entlegene Teile dieses riesigen Landes aus, um ein Leid zu beziffern, das heute noch niemand einzuschätzen vermag.