Momente in Mercedes

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Der Tag, an dem die Geschichte endlich ihren Platz in Mercedes findet, ist heiß und schwül. Zwischen der Hauptstraße, die sich durch die schmucklose Kleinstadt im westlichen Uruguay zieht, und den Ufern des Río Negro drängen sich am frühen Abend hunderte Menschen, verteilt auf flache Mäuerchen und Klappstühle. An der Bühne vor ihnen hängt ein Banner:

No son sólo memoria, son vida abierta, son camino que empieza y que nos llena.
„Sie sind nicht nur eine Erinnerung, sie sind Leben, sind ein Weg, der beginnt und uns erfüllt.“

Es ist ein Auszug aus einem Gedicht der uruguayischen Dichterin Circe Maia, schwarze Lettern auf weißem Grund. Darüber zehn bunte Porträts: die Gesichter der „desaparecidos“, der Verschwundenen aus dem Großraum Mercedes. Zehn der weit über 200 Opfer der zivil-militärischen Diktatur, die bis heute vermisst werden.

Langer Kampf für die Erinnerung

An diesem Samstag Anfang Dezember, über 30 Jahre nach Ende der Diktatur, widmet Mercedes ihnen eine Gedenkstätte. Mehr als ein Jahrzehnt hatte eine Gruppe von Bürgern dafür gekämpft. Jetzt steht eine der größten Gedenkstätten des Landesinneren hier, in ihrer Stadt.

Aus Montevideo sind wenige Stunden zuvor vier volle Busse angerollt und haben rauchende Studenten und Gewerkschaftler mit bunten Fahnen ausgespuckt, die sehen wollen, wie das Geschehene konserviert wird, die staatlich veranlassten Entführungen, Inhaftierungen und Folter-Schikanen gegen die organisierte Linke der siebziger Jahre. Für die Aktivisten ist die Einweihung heute, am Internationalen Tag der Menschenrechte, ein Pflichttermin.

Der Entwurf für das Memorial, der sich unter zwölf Einsendungen durchgesetzt hat, fällt in seiner Umgebung kaum weiter auf: zehn lange Bänke aus Stein, die die Namen der Verschwundenen tragen, zehn Baumsetzlinge, eine Infotafel. Im Grunde ein besserer Rastplatz, zum Sitzen, Nachdenken und Mate trinken. Geschichtliche Aufarbeitung und Erinnerung als Nebenprodukte des Alltäglichen.

Ergebnisloser juristischer Kampf

Etwas abseits, im Schatten eines alten Baumes, sitzt Jacqueline, 59 Jahre alt, kurze Haare, dicke Brille, und schlägt die Beine zum Schneidersitz zusammen. „Ich wurde während der Diktatur zweimal verhaftet“, erzählt sie. „Weil ich beim ersten Mal noch minderjährig war, ließen sich mich wieder gehen.“

Am 2. Juni 1975, die Gewerkschaftsaktivistin war seit wenigen Wochen 18 Jahre alt, kamen sie ein zweites Mal. Der Vorwurf: Verleumdung der Streitkräfte. Sie hatte öffentlich von den ersten Verschleppungen durch das Regime berichtet. Drei Jahre Haft. Verhör unter Folter. Sexueller Missbrauch.

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Jacquelines juristischer Kampf gegen die Verantwortlichen ist bis heute ein ergebnisloser. Im Oktober 2011 reichte sie gemeinsam mit anderen Missbrauchsopfern eine Sammelklage ein. Ein Urteil ist noch immer nicht gefallen.

Bis heute herrscht in Uruguay weitreichende Straffreiheit für in der Diktatur begangene Verbrechen. Teil der Rückkehr in die Demokratie war ein Amnestiegesetz, das bis Mitte des vergangenen Jahrzehnts jede Strafverfolgung unmöglich machte. Mittlerweile haben findige Anwälte Schlupfwege gefunden, um die Täter zur Rechenschaft zu ziehen.

Doch die Aufklärung der Fälle läuft schleppend. Bis heute sind erst 30 Menschen für ihre Beteiligung am uruguayischen Staatsterrorismus verurteilt worden. Symbolische Fälle, die nicht darüber hinweg täuschen können, dass eine systematische Bestrafung von Vergehen gegen die Menschlichkeit in Uruguay bislang gescheitert ist.

Gefolterte und Folterknechte leben Tür an Tür

Gerade hier im „interior“, wie die Uruguayos das Landesinnere nennen, ist die Diktatur, die das Land in Opfer, Täter und eine stille Mehrheit teilte, noch so viel präsenter als in der anonymen Großstadt. Gefolterte und Folterknechte leben Tür an Tür, drängen sich gemeinsam an der Supermarkt-Kasse und wissen doch immer, wer vor drei Jahrzehnten auf welcher Seite stand. Heute herrscht zwischen ihnen vor allem Schweigen.

„Ich schaue sie an und sehe, dass sie den Blick nicht erwidern können“, erzählt Jacqueline. „Wenn man ruhig bleibt, kommt man damit klar. Aber manchmal packt mich auch die Wut, wenn ich sehe, dass diese Menschen bis heute ungestraft geblieben sind.“