KIKERIKI – ein lautes, fast schon aggressives Krähen ist das erste, was ich nach viel zu kurzen 10 Stunden Schlaf höre. Ein Hahn (oder sind es zwei?) – träume ich das doch nur? Immerhin liegt mein Hotel am zentral gelegenen Bến Thành Markt.
Wenn New York die Stadt ist, die niemals schläft, dann ist Ho-Chi-Minh-Stadt (HCMS), die 13-Millionen Einwohner-Metropole im Süden Vietnams, die Stadt, die niemals still steht. Hupen, Rufen, Singen, Krähen – immer und überall Lärm, bis tief in die Nacht. Selbst beim Yoga piepsen die Handys.
Es scheint kein Entkommen zu geben von dem Lärm, und Rückzugsorte gibt es wenige. Das Pärchen, das ich im Park nebeneinander auf einer Bank meditieren sehe, scheint angesichts der allgemeinen Rastlosigkeit fehl am Platz. Im Innern des Parks ist es einigermaßen ruhig, doch schon auf der nächsten Bank hören zwei junge Vietnamesinnen laut Musikvideos.
Das rasante Wirtschaftswachstum und die Aufbruchstimmung in HCMS ist allgegenwärtig, und genau deswegen bin ich nach Vietnam gekommen: In den nächsten fünf Wochen werde ich die Ursachen von Vietnams wirtschaftlicher Entwicklung untersuchen und dabei auch die konkreten gesamtgesellschaftlichen und wirtschaftspolitischen Auswirkungen unter die Lupe nehmen.
Unüberhörbarer Aufschwung
Nichts verkörpert Vietnams wirtschaftlichen Aufstieg mehr als der nie enden wollende Schwall von Motorrollern, dem Haupttransportmittel der Vietnamesen, der sich wie dicht aufeinanderfolgende Wellen durch die Straßen ergießt. Allein in Ho-Chi-Minh-Stadt, die vor der militärischen Niederlage der südvietnamesischen Regierung 1976 Saigon hieß, gibt es angeblich mehr als sieben Millionen von den flinken Fortbewegungsmitteln.
Da gebrauchte Mopeds schon ab 150 Dollar zu bekommen sind, kann sich die große Mehrheit der Bevölkerung eines leisten. Autos hingegen sind bis jetzt der privilegierten Schicht vorbehalten, aber dank des wirtschaftlichen Aufstieg werden es immer mehr. Würden es auch nur halb so viele Vier- wie Zweiräder geben – die Stadt versänke im (Verkehrs-)Chaos.
Die Regierung investiert zwar massiv in öffentliche Verkehrsprojekte wie die Metro, aber die erste Linie in HCMS wird frühestens 2020 fertig. So gibt es während der Hauptverkehrszeit viele kleine, lokale Verkehrsinfarkte, begleitet von einem manchmal ohrenbetäubenden Hupkonzert, in dem Rollerfahrer auch den Bürgersteig für sich beanspruchen – und das nicht nur um in einen der riesigen, speziell vor sie vorgesehenen Parkplätze oder Garagen zu fahren. In den ersten sieben Tagen habe ich ganze zwei Fahrradfahrer gesichtet.
Wie ein Fischschwarm
Die Blechlawine, die scheinbar rund um die Uhr durch die Stadt rollt, steht nicht nur sinnbildlich für Vietnams wirtschaftlichen Aufschwung, sondern auch für die Mentalität der Vietnamesen. Oscar Sandström, ein Schwede der seit zwei Jahren in HCMS lebt, erzählt mir bei einem gemeinsamen Mittagessen dass der Verkehr die perfekte Analogie für den pragmatischen, lösungsorientierten Ansatz der Vietnamesen sei: Taucht ein Hindernis auf, fließt der „Fischschwarm“ aus Scootern einfach drum herum. Zum Beispiel über den Bürgersteig.
Hindernisse umfahren, anstatt sie aus dem Weg zu räumen, hat natürlich auch seine Schattenseiten. Die Zunahme des Verkehrs führt zu starker Luftverschmutzung in Städten; der dramatisch steigende Energiebedarf zu regelmäßigen Stromausfällen; und die jahrzehntelange Abholzung des Regenwaldes zu Bodenerosion, Überschwemmungen und Ernteausfällen. Außerdem ist die medizinische Versorgung in ländlichen Gebieten viel schlechter als in Städten, Abfälle und Abwässer verschmutzen Flüsse, Seen und Küstengebiete und die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander.
Seit den Đổi mới genannten marktwirtschaftlichen Reformen Mitte der 1980er Jahre hat sich das Pro-Kopf-Einkommen verfünffacht. Unter Anderem deswegen stuft die Weltbank Vietnam mittlerweile als Schwellenland ein. Kaffee ist einer der wichtigsten Industrien (Vietnam ist nach Brasilien weltweit der zweitgrößte Kaffeeproduzent), und die Bevölkerung ist extrem jung (von den etwa 90 Millionen Einwohnern sind circa ein Drittel unter 14 Jahre alt).
Ja is denn heut’ noch Weihnachten?
Lärm ist nicht das Einzige, was mir sofort in Ho-Chi-Minh-Stadt auffällt: Das ganze Distrikt 1, also die Innenstadt, ist weihnachtlich geschmückt. Überall sehe ich kleine und große Schriftzüge, die mir „Happy New Year“ wünschen. Außerdem Tannenbäume, festliche Beleuchtung und Weihnachtsmusik – überall wird versucht, eine weihnachtliche Stimmung zu erzeugen. In den ersten Tagen liefen beim Frühstück im Hotel Klassiker wie Wonderful Christmas Time.
Obwohl das Vietnamesische Neujahrsfest (Tết Nguyên Đán), das auch Mond-Neujahr (Lunar New Year) genannt wird, jedes Jahr zwischen Ende Januar und Mitte Februar liegt (diese Jahr ist es am 16. Februar), geben sich die größeren Städte zu Weihnachten im größtenteils säkularen, zumindest auf dem Papier kommunistischen Vietnam, alle Mühe um Weihnachtsstimmung zu erzeugen. Aber das ist hauptsächlich den vielen Touristen und dem Kapitalismus geschuldet, der in der Sozialistischen Republik Vietnam viel ausgeprägter ist als man denken könnte. Offiziell wird das System heute als Marktwirtschaft mit sozialistischer Orientierung bezeichnet.
Einen der größten Tannenbäume finde ich im Deutschen Haus, einem nagelneuen Bürogebäude im Herzen der Stadt und Symbol der strategischen Partnerschaft zwischen Vietnam und Deutschland. Es beherbergt nicht nur Firmen wie Adidas und Siemens, sondern wird auch in Kürze der neue Amtssitz des deutschen Generalkonsulats sein. Bei einer Tour durch das preisgekrönte Gebäude erfahre ich, dass es eines der energieeffizientesten Bürotürme in ganz Südostasien ist. Mehr dazu bald in einem separaten Blogeintrag.
Und der Hahn? Der kräht sogar am Nachmittag noch. Doch vielleicht ist zumindest mit dieser Lärmquelle bald Schluß: Der Leiter des Deutschen Haus erzählte mir, Hahnenkämpfe seien beim Neujahrsfest sehr populär. Bis dahin helfen wohl nur Ohrenstöpsel. Dann versinkt selbst die Stadt, die niemals still steht, in geradezu friedvoller Ruhe.