Nach einigen intensiven und aufschlussreichen Tagen in der Hauptstadt Kolumbiens, Bogotá, zieht es mich raus aufs Land. Ich treffe mich mit einer alten Bekannten: Laura, die sich selbst Arena nennt (auf Deutsch: Sand), holt mich am Portal de la 80 ab, einem großen Einkaufszentrum im Norden der Stadt.
Laura ist Kolumbianerin und ist hier in Bogotá aufgewachsen. Sie ist Mitte 20, hat ihre ohnehin dunklen Haare schwarz gefärbt und kurz geschnitten, trägt einen silbernen Ring zwischen den Nasenlöchern, auf dem rechten Oberarm ein großes Tattoo in Form einer Ratte, auf dem linken Unterarm eine Qualle. Laura studiert Kino an einer kleinen Hochschule in der Hauptstadt. Sie nimmt mich mit auf weniger ausgetretene Pfade außerhalb Bogotás.
Plötzlich im Grünen
Mit dem Auto von Lauras Mutter fahren wir eine halbe Stunde raus aus der Stadt. Überqueren eine Brücke, die den Übergang zwischen der Millionenstadt und der ländlichen Umgebung markiert. Auf Anhieb verändert sich das Bild: Grüne Wiesen und Hügel, nur noch vereinzelte, einfachere Häuser. Im Kofferraum liegen unsere vollgepackten Rucksäcke. Wir wollen zwei Tage in den Bergen verbringen, mit Zelten und Gaskocher durch die Kordilleren streifen, die Ausläufer der Anden, die sich von oben nach unten durch das Land ziehen.
Das Auto wollen wir in El Rosal stehenlassen, einem Dorf am Ausgangspunkt unserer Wanderung. Laura fragt sich nach einem bewachten Parkplatz durch. Einfach so am Dorfplatz parken geht nicht. Genügend Parkmöglichkeiten gäbe es, aber „dann klauen sie es“, sagt Laura, ganz selbstverständlich. Sie kennt es nicht anders, ist damit aufgewachsen, dass der, der hier etwas besitzt, gut darauf aufpassen muss. Unsicher fühlt sie sich trotzdem nicht: „Ich denke, du siehst den Menschen an, ob sie gut oder schlecht sind. Und wenn du einem schlechten begegnest, gehst du ihm aus dem Weg“.
Kriminalität in den Städten
An der Situation in der Stadt hat sich für ihr Empfinden in den letzten Jahren nicht viel verändert. Friedensabkommen hin oder her. Armut und Kriminalität sind in Kolumbiens Großstädten nach wie vor allgegenwärtig.
Hier in den Bergen ist der Kontrast zur Großstadt perfekt: Vogelgezwitscher und Schmetterlinge säumen die Wege, es duftet abwechselnd nach Eukalyptus und Kuhdung. Von rund 3000 Höhenmetern an den ersten beiden Tagen und nach zwei kühlen Nächten im Zelt schlendern wir zum Abschluss der Wanderung stetig bergab, bis sich das Bild wieder wandelt: Die letzten Nadelbäume verschwinden, stattdessen tauchen Bananen- und Kaffeeplantagen auf. Waren uns im ersten Teil der Wanderung im unwegsamen Gebirge kaum ein Haus oder Mensch begegnet, scheint hier wieder die Zivilisation zu beginnen. Trotzdem kreuzen wir nur einzelne Fincas entlang des Wegs, von einfachen Bauernhäusern bis zu prachtvollen Anwesen.
Alle sind gleich, manche sind gleicher
Auch hier zeigt sich die ungleiche Verteilung der Ressourcen in Kolumbien, die einen Großteil der problematischen Lage des Landes ausmacht: Manche Bauern bewirtschaften mit Mühe einfache Flächen, um sich ihr Überleben zu sichern. Gleich daneben stehen Grundstücke, die wirken wie die Residenz eines Superstars: Begrenzt durch hohe Mauern mit Wachtürmen und Nato-Draht, hinter denen Swimmingpools und Billardtische mehr oder weniger versteckt liegen.
Diese Ungleichheit, da ist sich Laura sicher, werde sich durch die neue konservative Regierung Kolumbiens weiter verschärfen – ebenso wie sich der Konflikt wieder zuspitzen werde. Der neue Präsident Iván Duque sei ein Betrüger. Viele der Stimmen für ihn seien gekauft worden. Anders könne sie sich seinen Sieg nicht erklären.
Wahlbetrug werfen sich das linke und das konservative Lager gegenseitig vor – Beweise gibt es bisher keine.
Was der Sieg Duques für Kolumbien bedeute? Die Paramilitärs könnten wieder erstarken, ebenso wie die Guerilla – kurzum: der Frieden stehe auf der Kippe. Nicht zuletzt durch die Ankündigungen Duques, das Friedensabkommen nachträglich zu verändern, zu Ungunsten der Ex-Guerilleros und zum Nachteil vieler Opfer des jahrzehntelangen Konflikts, denen der scheidende Präsident Santos Entschädigungen zugesichert hatte. Mit dieser Meinung ist Laura nicht allein: Viele Menschen, mit denen ich in der Hauptstadt gesprochen habe, haben mir eine ähnliche Sichtweise präsentiert. Wenn es nach ihnen ginge, hätte der linke Gegenkandidat Duques, Gustavo Petro, neuer Präsident werden müssen, um den Friedensprozess voranzubringen.
So einfach ist es nicht
Doch natürlich gibt es auch eine andere Sichtweise: Auf der Rückfahrt nach Bogotá begegne ich im Bus einem Bauern aus der Region. Er heißt Gilberto, ist 65 Jahre alt, hat ein freundliches, schmales, sonnengebräuntes Gesicht und trägt eine Schirmmütze mit der Nationalflagge Kolumbiens. Er freut sich, sich mit mir zu unterhalten. Bedankt sich, dass ich als Ausländerin sein Land besuche und ist dabei sichtlich gerührt. Gilberto fährt aus dem Dorf San Francisco, dem Endpunkt unserer Wanderung, in die Hauptstadt. In San Francisco sei er großgeworden, seine Familie habe immer dort gelebt. Inzwischen habe er auf seiner Farm dort 50 Hühner und jede Menge Obst und Gemüse, erzählt er stolz; teils zum Verkauf, teils, um sich selbst zu versorgen. Guaven, Bananen, Kaffee, Kürbisse… In Bogotá wohnen seine beiden Kinder – und er mit ihnen, phasenweise, wenn er gerade nicht auf der Finca arbeitet. In San Francisco gefalle es ihm aber besser. Da sei es friedlicher, nicht so ein Verkehr und so eine Hektik wie in der Hauptstadt.
Wo heute Bananen wachsen, stand früher Koka
Ich frage Gilberto, ob es dort auf dem Land immer so ruhig gewesen sei, hinsichtlich der Guerilla. Nein, erinnert er sich, früher habe es viele Probleme gegeben. „Die“ – damit meint er Angehörige der einst größten Gueruilla-Gruppe des Landes, FARC – seien gekommen und hätten die Bauern gezwungen, Koka anzubauen. Kokablätter sind die Grundlage für den konfliktträchtigen Exportschlager des Landes, das Kokain. „Das konnte man sich nicht aussuchen, die kamen mit Waffen und haben gesagt, das macht ihr jetzt.“ Auch seine Familie sei häufig mit der Guerilla konfrontiert gewesen.
Für Gilberto ist Ex-Präsident Álvaro Uribe vom Centro Democrático, der Partei des neuen Präsidenten Duque, so etwas wie ein Retter in der Not: „Als Uribe Präsident war [von 2002-2010], da kamen seine Leute in die Dörfer und haben uns geholfen – pampampam – haben sie die Guerilla ausgelöscht. Seitdem können wir wieder in Frieden leben.“
Uribe hatte während seiner Präsidentschaft eine gewaltvolle Offensive gegen die Guerilla durchgeführt. Einige Regionen konnte der Staat danach wieder unter seine Kontrolle bringen. Wenig verwunderlich, dass Gilberto auch den neuen Präsidenten Duque für „den Guten“ hält.
Das Friedensabkommen sei dagegen eine Farce. Straftäter könnten frei herumlaufen und bekämen auch noch ein Gehalt vom Staat. Durch das Abkommen zahlt die kolumbianische Regierung ehemaligen Farc-Kämpfern für die ersten zwei Jahre nach ihrer Demobilisierung umgerechnet rund 185 Euro im Monat, damit sie sich ein neues Leben aufbauen können. Das entspricht 90 Prozent des Mindestlohns in dem Land, wobei in der Realität viele Menschen mit weniger auskommen müssen.
„Und ich bekomme kaum eine Rente, obwohl ich mein ganzes Leben lang gearbeitet habe. Das ist doch nicht gerecht, oder?“, fragt Gilberto.