Madagaskar – bei diesem Wort denken viele Menschen wohl zuerst an den Disney-Film, wunderschöne Landschaften und seltene Tier- und Pflanzenarten. Dass es gleichzeitig eines der ärmsten Länder der Welt ist und mehr als 75 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt, wissen die wenigsten. „Sie sind Journalistin und kommen zu uns?“, fragt mich die Leiterin einer großen NGO im Vorfeld meiner Reise am Telefon. „Wenn wir in andere Länder reisen, lachen die Grenzbeamten. Sie sind überrascht, dass es Madagaskar wirklich gibt.“
Ich fühle mich in meiner Entscheidung bestärkt. Sechs Wochen Madagaskar, sechs Wochen in einem Land, das definitiv zu wenig Aufmerksamkeit bekommt. Woran liegt das? Kein Terrorismus, keine geopolitischen Interessen und keine Flüchtlinge, die sich auf den Weg zu uns nach Europa machen könnten. Das zumindest sind die ersten Antworten, die ich hier bekomme.
In der Hauptstadt Antananarivo gelandet, bleibt keine Zeit zum Durchatmen. Fast 30 Stunden war ich unterwegs, doch es geht direkt weiter. Ich treffe eine Hebamme aus Deutschland, die bereits seit 15 Jahren in Madagaskar lebt. Sie setzt sich für Frauen und Kinder ein; hat vor wenigen Monaten eine große Klinik gebaut.
Ich bin hier, um mehr über genau diesen Teil der Gesellschaft zu lernen. Welche Rolle nehmen Frauen in Madagaskar ein? Wieso sterben noch immer so viele Säuglinge wie vor 30 Jahren? Warum scheint es niemanden zu interessieren, dass selbst die Jüngsten unter prekären Umständen arbeiten müssen, statt zur Schule zu gehen? Was macht es mit einem Land, wenn mehr als die Hälfte der Kinder chronisch unterernährt ist?
An meinem ersten Abend erlebe ich mehr, als ich in so kurzer Zeit verdauen kann. Tanja, die Hebamme aus Deutschland, nimmt mich mit in das Zentrum von Antananarivo. Drei Mal pro Woche kommt sie mit einer mobilen Klinik hier her, um nachts Obdachlose medizinisch zu versorgen. Etwa 20,000 Kinder leben hier auf der Straße, meist ohne Eltern. Sie schlafen neben einem stinkenden Fluss, zusammengekauert zwischen Ratten und Straßenhunden. Die Stadt ist dunkel, obwohl hier mehr als vier Millionen Menschen leben. Und es ist kalt, nachts schafft es das Thermometer kaum auf zehn Grad.
Als wir ankommen, warten viele Kinder schon auf uns. Hier bekommen sie eine Auszeit, dürfen Kind sein, im Kids-Club neben der mobilen Klinik singen, beten und spielen. Direkt daneben warten vor allem Frauen auf ihre Untersuchung. Manche sind schwanger, andere haben Säuglinge im Arm. „Die meisten Babys hier sind komplett nass“, sagt Tanja, als sie das erste Kind untersucht. Windeln gibt es nicht, viele Säuglinge sind deshalb krank.
Auf dem Rückweg besuchen wir noch zwei Patienten im Universitätskrankenhaus der Stadt. Ärzte gibt es hier aber kaum, vor allem nachts, genauso wie OP-Material oder hygienische Vorschriften. Die medizinische Versorgung ist schlechter, als in ähnlich armen Ländern. Gerade erst sind über 1000 Menschen an Masern gestorben, die Pest bricht regelmäßig aus. „Hier sterben Menschen an Dingen, daran darf man nicht sterben“, sagt Tanja. „Sie überleben nicht, weil sie ins Krankenhaus gehen, sondern obwohl sie hier sind.“ Was sie damit meint, werde ich in den nächsten Tagen erfahren.