Lass es fließen

„Hör auf, alles kontrollieren zu wollen. Lass einfach los. Lass los.“ Diese Worte richtet Brad Pitt an Edward Norton in Fight Club, kurz bevor er absichtlich einen Autounfall herbeiführt. Dieses Filmzitat hat der damalige Praktikumsleiter des dpa Videoservice, wo ich vor sieben Jahren ein Praktikum absolviert habe, zu seinem persönlichen Slogan „Lass es fließen“ umformuliert. Und immer wenn ich bei der Arbeit nicht weiter wusste, trichterte er mir das Mantra ein.

Nein, ich hatte keinen Autounfall. Ich bin kein Neumitglied eines brutalen ghanaischen Untergrundclubs geworden. Aber es gab Momente, in denen ich nicht weiter wusste. Und erst als ich „es“, beziehungsweise mich selbst, hab fließen lassen, wurden Alternativen und Auswege sichtbar. In der dritten Woche meiner Reise hatte ich das Gefühl, mich von altbekannten Schemata zu lösen – lösen zu müssen – und einfach auf das Hier und Jetzt einzulassen.

Tacheles: Ich war an einer Dorfschule, um den Informatikunterricht im ländlichen Raum zu beobachten. Aus einem zwei-Tages-Trip wurde ein fünf-Tage-Abenteuer.

In einem Hostel in der Hauptstadt Accra habe ich einen Briten kennengelernt, der „corporate social responsibility“-Seminare veranstaltet. – Ich wusste bis jetzt auch nicht, dass es so Etwas gibt. – Mit anderen Worten: Da kommen Leute von westlichen Großkonzernen nach Ghana und tun irgendwas Gutes.

In meinem Fall kamen hochrangige Angestellte von Siemens, um ein neues Schulgebäude in einem Dorfinternat zu bauen. In Shia, einem Dorf in der Volta Region im Osten Ghanas an der Grenze zu Togo.

Einen Tag hat es gedauert, bis ich über kaputte Straßen und Buckelpisten in die Nähe des Dorfes kam. Dann hat es nochmal einen knappen Tag gedauert, bis der Brite, der mich zum Seminar eingeladen hatte, mich abgeholt und ins Dorf gebracht hat. Dort angekommen, gab es kein fließend Wasser, und tagsüber gab es keinen Strom. „Lass einfach los.“

An der Schule angekommen, war es erstmal schwierig einen Ansprechpartner zu finden. Denn der Schulleiter war zu einer Konferenz in Accra. Sein Stellvertreter war noch nicht da. Der Informatiklehrer war nicht zum Unterricht erschienen. „Hör auf, alles kontrollieren zu wollen.“

Irgendwann kam dann der Stellvertreter, hat mich anderen Lehrern und Schülern vorgestellt. Der Biologielehrer hat den Informatiklehrer über WhatsApp angeschrieben, für den nächsten Morgen eine Unterrichtsstunde angesetzt, extra für mich. Und mir nebenbei auch noch das ghanaische Schulsystem erklärt. „Lass es fließen.“

Aufgeschnappt und notiert

Das ghanaische Fernsehen schert sich nicht viel um Lizenzrechte. Weswegen hier im Free-TV bereits der Film Aquaman lief. Der Streifen ist in Deutschland bisher nur im Bezahlfernsehen bei Sky zu sehen. Laut meinem Vermieter ist es bei afrikanischen Filmproduktionen noch schlimmer. „Da zeigen die Filme im Fernsehen, die zeitgleich im Kino laufen. // Alle halten mich für einen Amerikaner oder Franzosen. // Bislang habe ich noch keine Milch aus Ghana gesehen. Egal ob im Supermarkt, oder im kleinen Getränkeshop an der Ecke: Jede Milchpackung ist ein Import aus Europa. // Ich vermisse deutsches Brot.

Bildung und Digitalisierung

Das, was in Shia als Informatikunterricht („ICT class – Information, communication and Technology) bezeichnet wird, ist vielmehr eine Einführung in Computergrundkenntnisse. In der Unterrichtsstunde, bei der ich anwesend sein durfte, hat der Lehrer die „drag and drop“-Funktion erklärt und erste Schritte mit PowerPoint erklärt. Notwendig. Denn die meisten Schüler haben keinen Computer. Weder zu Hause bei ihren Eltern, geschweige denn im Internat. Die Schule hat zwar fünf eigene Rechner, aber die sind alle kaputt. Einen Internetzugang kann sich die Schule nicht leisten. Was bedeutet, dass der ICT-Lehrer seinen persönlichen Laptop als Anschauungsmaterial mitbringt, und ein Schüler nach dem anderen einmal an den Computer darf, um drag and drop selbst auszuprobieren. Falls während einer Schulstunde Internetzugang erforderlich sein sollte, dann dann verbraucht der Lehrer sein eigenes Datenvolumen. Die Schule soll einen aufs Leben vorbereiten? „Lass es fließen“.

Als Resultat gibt es überall im Land Computer Trainings. Diese Kurse sind fast so verbreitet wie Fahrschulen. Die Computer Trainings finden an öffentlichen Schulen und Universitäten, sowie an privaten Bildungseinrichtungen statt. Die Kurse sind unterschiedlich lang, und je nachdem wie hoch die Teilnahmegebühr ist, lernen die Aspiranten an den neuesten Apple-Rechern oder mit Windows 98.

Viele Schüler, mit denen ich gesprochen habe, wollen nach der Schule einen mehrwöchigen Computerkurs machen. Viele wollen so die freie Zeit zwischen Schulende (Juni) und Unistart (September) sinnvoll nutzen.

Keine E-Mails, Horrorfilme und Pornos

Dabei sind die Internatsschüler in Shia keine digitalen Analphabeten. Fast alle haben ein Smartphone mit mobilem Internetzugang. Das nutzen sie, um mit ihren Familien zu telefonieren, sich auf Facebook (beliebtestes Netzwerk unter ghanaischen Jugendlichen. Twitter, Instagram und Snapchat spielen kaum eine Rolle). Da sich das Verhalten am Handy teilweise eklatant vom Umgang mit dem PC unterscheidet, kommt es zu – aus deutscher Sicht – merkwürdigen Zuständen. Beispielsweise, dass viele Schüler noch nie eine E-Mail geschrieben haben, aber wissen wo man sich im Netz Musik herunterladen kann.

Ihr Handy dürfen die Schüler allerdings nur zu bestimmten Uhrzeiten und unter Aufsicht eines Lehrers nutzen. Werktags zwischen 16 und 17 Uhr. Am Wochenende drei Stunden pro Tag zwischen Frühstück und Mittagessen. Der Grund ist laut des Informatiklehrers schnell sowie simpel erklärt: „Wir wollen nicht, dass sich die Schüler Horror- oder Pornofilme ansehen.“