Schöne neue Welt

Tucurí. Diesmal soll es keine brennenden Autos geben, keine Besetzung der Schaltzentrale des Staudamms, keine Schüsse und keine Verhaftungen. Bei dieser Demonstration will die Bewegung der Staudammopfer (MAB) mit der staatlichen Energiefirma über das versprochene Geld reden. Es geht um das Wasserkraftwerk Tucurí im brasilianischen Bundesstatt Pará, knapp 400 Kilometer südöstlich von Belo Monte. Tucuruí ist seit vergangenem Jahr fertiggestellt. „Die sozialen Probleme aber bleiben“, sagt MAB-Koordinatorin Euvanice Furtado. „Wenn sie nicht bald bereit sind zu reden, dann werden wir unsere Erwartungen eben auf radikalere Art ausdrücken.“

Drei Tage zuvor erinnert die rötlich-staubige Piste der Transamazônica an einigen Stellen auf dem Weg nach Tucuruí mehr an eine mit Schlaglöchern überzogene Motocross-Strecke, als an eine Straße. Insgesamt 5000 Kilometer zwängt sie sich durch Amazonien. An ihrem Rand haben sich in den 80-er Jahren Kleinstädte wie Pacajá angesiedelt: 25.000 Menschen, kein Krankenhaus, kein Abwassersystem, keine Bank, kein Asphalt. Die Bewohner hier unterscheiden nicht zwischen Regen- und Trockenzeit, sondern zwischen „Matsch und Staub“.

 

Um den Norden Brasiliens zu erschließen, baute die Militärregierung die Transamazônica. Anwohner richten ihr Leben nicht nach Regen- oder Trockenzeit, sondern nach „Matsch oder Staub“.

 

Für 400 Kilometer braucht der Bus ungefähr zehn Stunden. Dann beginnt die Zivilisation. Das Zentrum von Tucuruí hat Straßen mit Zebrastreifen, ein Einkaufszentrum und sogar eine Stadtbibliothek. Am Kai des Stausees warten Frauen mit weißen Sommerhüten auf das Motorboot, dass sie zum gegenüberliegenden Strand fahren soll.

Als hier 1975 der Bau des Wasserkraftwerks begann, hatte Tucuruí 8000 Einwohner. Heute sind es 100.000. So etwas wie ein Umweltgutachten gab es nicht. Zur Entlaubung des Waldes ließ die Regierung Agent Orange sprühen, jenes Herbizid, das während des Vietnam-Krieges traurige Berühmtheit erlangte. In Pará zerstörte das Gift nicht nur große Waldgebiete, sondern auch die Häuser und Lebensgrundlage von tausenden Landbewohner und indigenen Völkern. Als die Staumauer 1984 geschlossen wurde, überschwemmte das Wasser fast 2900 Quadratkilometer, also fast die fünffache Fläche des Bodensees. 30.000 Menschen verloren ihr Heim, die Vegetation unter der Wasseroberfläche begann sich zu zersetzen und Methangas zu produzieren. Algen und Moskitos hatten optimale Bedingungen. Die Fallzahlen von Malaria stiegen rasant.

 

Die Staumauer des Damms Tucuruí wurde 1984 fertig gestellt. Seitdem liefern die Turbinen mehr als 20.000 GWh Elektrizität, die vor allem von der Aluminiumindustrie konsumiert werden.

 

Mit einer Kapazität von 8000 MW generiert der Staudamm jährlich mehr als 20.000 GWh Elektrizität. Damit könnte man die Stadt Köln etwa zehn Jahre mit Strom versorgen. „Fast 100 Prozent der Energie gehen an die Industrie“, sagt Edilson Junior, Referatsleiter für Umweltangelegenheiten in Tucuruí. Gerade im Norden des Landes gibt es bedeutende Bauxit-Vorkommen, deren Förderung und Umwandlung in Aluminium sehr viel Energie erfordert.

Referatsleiter Edilson Junior ist ein freundlicher Anwalt Ende 30, der von der Stadtverwaltung gern als eloquenter Gesprächspartner vorgeschlagen wird. Seine Mutter kam als eine leitende Mitarbeiterin eines Bergbauunternehmens nach Tucuruí, er selbst arbeitete acht Jahre als Anwalt für die Firma. Die jährlichen Ausgleichszahlungen des Energiegiganten Eletronorte sorgten für einigen Wohlstand in der Stadt. Es sei aber vergessen worden, sich auf die Zeit nach den Bauarbeiten vorzubereiten. „Wir haben Schleusen, aber keinen Hafen, den wir als Zugang für die Industrie bräuchten“, sagt Edilson Junior.

Mit dem Ende der Bauarbeiten im vergangenen November stieg die Zahl der Arbeitslosen immens. „Letztes Jahr noch“, sagt die alte Frau, die vor der Tür gefüllte Teigtaschen verkauft, „gingen davon 300 weg wie nichts“. Heute steht sie schon seit Stunden in der prallen Sonne und hat erst drei verkauft. Euvanice Furtado von der Staudamm-Opferbewegung MAB drückt es polemischer aus: „Es gibt für die meisten Leute hier nur zwei Optionen: weggehen oder kriminell werden.“ Der vermeintliche Fortschritt sei trügerisch, meint sie. „Geh in die Viertel etwas außerhalb des Zentrums! Da gibt es keinen Asphalt, kein fließendes Wasser, kein Abwassersystem!“

Eines dieser insgesamt 37 inoffiziellen Viertel ist Palmares. Vor zwölf Jahren besetzten Menschen diesen Hügel außerhalb der Stadt. Eine der Besetzerinnen war Francisca Feitosa, heute 62 Jahre alt. Statt zu klingeln, klatscht man an der Haustür, um sich anzumelden. Mitte der 90-er war sie mit ihrem Mann und den Kindern nach Tucuruí gekommen. Als Landarbeiter hofften sie hier auf Arbeit. Fünf Jahre wohnten sie im Zentrum der Stadt – 16 Menschen in drei Zimmern – bis ihnen die Miete zu teuer wurde.

 

Francisca Feitosa vor ihrem Haus im illegalen Viertel Palmares. Polizei und Krankenwagen kommen hierher nicht.

 

„Wir hatten keine Wahl“, sagt sie. Ihr geräumiges Holzhaus hat einen Kühlschrank, einen Fernseher und sogar eine Pumpe, die die Familie und einige Nachbarn mit Grundwasser versorgt. Das Abwasser fließt jedoch einfach hinten den Hügel hinunter, Regen verwandelt die Straße vor der Tür in einen lehmig braunen Sumpf. „Die Stadtverwaltung hat uns vergessen. Es gibt keinen Arzt hier, keine Post, keine Schule“, sagt Francisca Feitosa. „Die Situation ist furchtbar. Nicht einmal der Krankenwagen traut sich hier herein, weil es keine Straßen gibt. Und die Polizei kommt auch nicht.“

 

MAB-Koordinatorin Euvanice Furtado (li.) droht via Radio dem Energieversorger Eletronorte.

 

Die Demonstration zeigt Wirkung. Eletronorte schickt einen Wagen, um Euvanice Furtado und zwei Kolleginnen von MAB zur Zentrale des Energieversorgers zu bringen. „Seit 2004 diskutieren wir die Freigabe eines Kredits zur Weiterbildung für 977 vom Staudamm betroffene Familien. Und wir diskutieren seit 2007 über Geld für Fischer, die durch die Schleusen ihre Arbeit kaum noch ausüben können“, berichtet die Koordinatorin auf dem Weg.

Im Konferenzsaal eines flachen Containergebäudes warten zwei grauhaarige Ingenieure auf die Frauen. Einer von ihnen ist der verantwortliche Manager Waldo Neto. Still hört er sich die Forderungen an, sagt dann aber, er könne nichts tun. „Alle finanziellen Mittel der Schleusen kommen vom Verkehrsministerium. Eletronorte ist nur der Auftragnehmer. Deshalb muss das Verkehrsministerium auch das Geld freigeben.“ Aber er verspricht, die Forderungen nach Brasilia weiterzuleiten. Das reicht Euvanice de Jesus Furtado aber nicht. „Wir wollen eine Versammlung mit allen Beteiligten, Bund, Land und Eletronorte“, sagt sie hinterher. „Damit nicht einer die Schuld auf den anderen schieben kann. Zehn Tage haben wir ihnen für eine Antwort gegeben. Dann gehen wir wieder auf die Straße. Bis jetzt waren wir viel zu friedlich!“