Việt Nam chiến thắng! Việt Nam chiến thắng!! Việt Nam chiến thắng!!!
„Vietnam gewinnt“ – der Jubelschrei, der im Januar millionenfach bis tief in die Nacht durch Vietnams Städte hallte, hat sich tief in mein Gedächtnis gebrannt. Er wurde quasi zur Hymne des beispiellosen Erfolgs von Vietnams U-23 Fußballnationalmannschaft, die im Januar das ganze Land zwei Wochen lang in Atem hielt.
Für mich hat nichts die Aufbruchstimmung und den Zeitgeist im Land stärker verkörpert als der geradezu ekstatische Jubel während der dritten U-23-Fußball-Asienmeisterschaft. Vor allem beim Viertelfinale, Halbfinale und beim Endspiel sah ganz Vietnam rot; Nichts schien in Ho-Chi-Minh-Stadt (HCMS) und dem Rest des Landes wichtiger als ein Team von 11 jungen, bis vor kurzem relativ unbekannten Vietnamesen.
Selbst wenn man wollte: Der Faszination und der Energie, die von dem Turnier und der Mannschaft ausging, konnte man sich kaum entziehen. Nach den drei letzten Spielen war an Schlaf vor Mitternacht nicht zu denken: Am Samstag, dem Tag des Finales gegen Usbekistan, fuhr die rote Scooter-Schlange hupend und singend bis in die frühen Morgenstunden durch HCMS. Alt und jung, Frauen und Männer, Software-Entwickler, Studenten und Banker – keiner wollte dieses historisches Ereignis verpassen.
Kein Wunder: Sportlich gesehen war die Sozialistische Republik Vietnam in den letzten Jahrzehnten nicht gerade erfolgreich. Für eine Fußballweltmeisterschaft konnte man sich noch nie qualifizieren, und der letzte große Turniererfolg, der Gewinn der Südostasienmeisterschaft gegen Erzfeind Thailand, liegt fast 10 Jahre zurück. Immerhin gab es in Rio 2016 das erste Olympia-Gold für Vietnam überhaupt: Der damals 41-jährige Armee Oberst Hoàng Xuân Vinh setze sich im Luftpistolenschießen über 10 Meter gegen Brasilien und China durch.
Obwohl Fußball immer populärer in Vietnam wird, steht es um Breitensportarten nicht sehr gut. Die 1. Fußball-Liga (V.League 1) wird von Korruption und Spielmanipulation geplagt. Und abgesehen von den Teams in den großen Städten, wie dem Hồ Chí Minh City FC in Saigon, dem Hà Nội T&T Football Club in Hanoi und dem SHB Đà Nẵng in Da Nang, spielen die meisten Teams in fast leeren Stadien.
Fußball – der Pulsschlag der Nation?
Doch der Reihe nach. Die dritte U-23-Fußball-Asienmeisterschaft (nach 2014 und 2016) fand vom 9. bis zum 27. Januar in China statt. 16 Mannschaften vom ganzen Kontinent traten gegeneinander an, zunächst in der Gruppenphase in vier Gruppen, danach im K.O.-System. Im Viertelfinale schlug Vietnam den Irak im Elfmeterschießen.
Vier Tage später wurde Katar bezwungen, ebenfalls im Elfmeterschießen. Und bis kurz vor Ende der Verlängerung sah es im Schneetreiben von Changzhou so aus, als ob auch das Finale gegen Usbekistan durch Elfmeter entschieden würde. Aber mit einer Minute zu spielen schoß der zwei Minuten vorher eingewechselte Usbeke Andrey Sidorov das entscheidende 2:1 Siegtor.
Allen um mich herum (mich eingenommen) war der Schock ins Gesicht geschrieben. Zu Tausenden verließ die rote Masse die zentrale Nguyen Hue Promenade. Angesichts der versteinerten Mienen um mich herum hatte ich die Sorge, dass die Stimmung kippen würde und die Vietnamesen dieses Mal wirklich rot sehen würden.
Zumindest aber hatte ich Zweifel daran, dass sie trotzdem (weiter)feiern. Immerhin sind sie für ihren Pragmatismus bekannt. Und für ihren Opportunismus, den man unter anderem an den unzähligen Rabatt-Aktionen in Restaurants, Bars und Shops sowie an den vielen Ständen sehen konnte, die an den Spieltagen eilig hergestellte T-Shirts und Flaggen verkauften.
Aber als ich nach einem Treffen mit dem Honorarkonsul von Chile gegen 21 Uhr, also über drei Stunden nach Abpfiff, wieder Richtung Innenstadt fuhr, war vor mir auf einmal besagte ‘rote Schlange’, die hupend und jubelnd den kompletten, vierspurigen Highway einnahm. Damit war meine Frage beantwortet: Die Begeisterung war echt, und zumindest beim Feiern blieben die Vietnamesen ungeschlagen. Dass alles friedlich und ohne Saufgelage ablief, hat mich besonders beeindruckt. Davon könnten sich europäische Fußball-Fans eine Scheibe abschneiden. Ob sich wohl in Usbekistan ähnliche Szenen abgespielt haben?
Was bleibt nach dem historischen Ereignis?
Zwei Tage nach dem verlorenen Finale erzählt mir eine Vietnamesin in Da Nang, das Ergebnis sei zweitrangig gewesen. Was zähle sei der Einsatz. „Wenn sie das Finale gewonnen hätten, wären sie unsere Champions gewesen. So sind sie unsere Helden“, sagt die Rezeptionistin, die danach noch minutenlang von der Leidenschaft und der Aufopferung ihrer Helden schwärmt.
Das Potential, das von einem Erfolg bei einem sportlichen Großereignis wie einem internationalen Fußballturnier ausgeht, ist nicht zu unterschätzen. Es bringt Menschen zusammen, die sonst wenig miteinander zu tun haben; Beim Singen, Trinken und Fahnen-Schwenken sind Status und Herkunft zweitrangig. Was zählt, ist der Jubel und der Stolz aufs eigene Land. So etwas schweißt zusammen.
Für Floyd Bennit, ein Unternehmer aus Hamburg der seit 20 Jahren in HCMS lebt, hat die Asienmeisterschaft einen ähnlichen Stellenwert für Vietnam wie die Fußballweltmeisterschaft 2006 für Deutschland, das vielzitierte „Sommermärchen“.
„Als Deutsche hatten wir ein ähnliches Erlebnis als Weltmeister der Herzen, als wir das erste mal wieder die deutsche Fahne voller Stolz zeigten“, erzählte mir der Präsident der Saigon Raiders nach dem Spiel. „Ein Gewinn hätte Vietnam sicher gut getan, um Nord und Süd weiter zu einen.“
Trotzdem ist Vietnam-Veteran Floyd davon überzeugt, dass der Erfolg und die Leidenschaft der roten Drachen seine Spuren hinterlassen wird.
Auch Tri und Bin, zwei Fremdenführer, die ich in Da Nang treffe, glauben fest daran, dass der Erfolg der Mannschaft den Zusammenhalt im Land stärken wird. Vor dem Turnier hätten sich Vietnamesen selbst bei Blechschäden manchmal geprügelt. Jetzt seien sie freundlicher. Und sie bestätigen, was ich mich die ganze Zeit gefragt habe: Dass auf dem Land genauso überschwänglich gefeiert wurde wie in den Städten.
Dass mit Vietnam das erstes Mal ein Südostasiatisches Team überhaupt im Finale einer Asienmeisterschaft war, sei auch gut für das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb ASEAN, der Verband Südostasiatischer Nationen, der sonst eher von Rivalitäts-Denken und -Verhalten geprägt ist, so Tri und Bin.
Ob die Vietnamesen nach dem Turnier wirklich nachhaltig freundlicher zueinander sein werden, darf bezweifelt werden. Ich sehe größeres Potential für das Selbstverständnis der Vietnamesen und deren Wahrnehmung im Ausland. Ob Visa-Regularien, Prostitution und andere nicht gerade schmeichelhafte Dinge – vor allem innerhalb ASEANs hat Vietnam mit vielen Klischees und Vorurteilen zu kämpfen. Und als (westlicher) Ausländer ist es oft der Vietnamkrieg und vielleicht noch Reisfelder, das man mit dem südostasiatischen Staat verbindet.
Kann das Turnier Vietnams Ruf, der seinen Vorzügen nicht gerecht wird, nachhaltig verbessern?
Zumindest besteht wenig Zweifel daran, dass das Wintermärchen Vietnamesen über Jahre hinweg mit Stolz erfüllen wird. Es könnte dem Land sogar eine neue Identität verpassen – die eines Underdogs, der sich durch Kampfgeist und Teamarbeit nach oben kämpft und Respekt verschafft.
Nachdem das Spektakel vorbei war, fragte ich mich oft wie man wohl in 10 Jahren auf diese magischen zwei Wochen im Januar 2018 zurückblicken wird. Vielleicht werden Worte wie ‘historisch’ oder ‘wegweisend’ fallen. Nicht, weil mit dem Erfolg schlagartig alle Herausforderungen des Landes gelöst waren; Sondern weil das Turnier zu einem Symbol für das neue, ehrgeizige und moderne Vietnam wurde.