Taiwan: Zwischen Aufklärung und Vergessen

Fred Chin öffnet mit einem Schlüssel die Tür, hinter der er viele Jahre seines Lebens verbracht hatte – unfreiwillig. Er wurde als junger Mann von der Geheimpolizei abgeholt und zu 12 Jahren Gefängnis verurteilt. Die ersten seiner Haftzeit verbrachte er hier, in den Zellen von Jingmei in Neu-Taipei. Chin kommt mit 18 Jahren von Malaysia nach Taiwan, um zu studieren. Im Rückblick, sagt er, die schlimmste Entscheidung seines Lebens. 1971 wird er von der Geheimpolizei abgeholt. Chin kann sich bis heute nicht erklären warum. Die Polizisten zwangen ihn Blut zu trinken und hängten ihn kopfüber auf. „Sie folterten mich solange, bis ich gestand ein malaysischer Terrorist zu sein“, erinnert sich der heute 73-Jährige. „Ich versuchte mich umzubringen, aber scheiterte.“

Als Chiang Kai-Shek den Bürgerkrieg gegen die kommunistische Partei in China verliert, flieht er zusammen mit seine Partei, der Kuomintang (KMT) nach Taiwan. Doch er misstraut den Taiwanern, die gerade erst aus japanischer Kolonialherrschaft befreit waren. Der Terror beginnt am 28. Februar 1947 mit dem Massaker von zehntausenden Taiwanern, die gegen das autoritäre Regime der KMT protestierten, aber auch Unbeteiligte fielen dem Vorfall zum Opfer. Das 1949 ausgerufene Kriegsrecht sollte erst knapp 40 Jahre später wieder enden. Diese Zeit wird heute als weißer Terror bezeichnet. Bis 1987 wurden schätzungsweise 140.000 Menschen inhaftiert und weitere 3.000 bis 4.000 wegen tatsächlicher oder vermeintlicher Opposition zur KMT hingerichtet. Ihnen zu gedenken, ist in Taiwan umstritten. Die Gründe dafür liegen in der Geschichte der Übergangsjustiz, wie Erinnerungspolitik in Taiwan heißt. Sie begann in den 90er Jahren und ist bis heute so kompliziert, dass die Regierung regelmäßig den Vergleich zu Deutschland sucht. Zuletzt 2018 als das taiwanische Kulturministerium eine Delegation des Stasi-Museums nach Taipei einlud, um über den Umgang mit politischen Akten der Diktatur zu sprechen. Deutschland gilt hier als Vorbild in Sachen Vergangenheitsbewältigung. Für viele Menschen ist das Sprechen über den weißen Terror Politik.

Wie viel Aufarbeitung braucht eine demokratische Gemeinschaft? Kann ein kollektives Erinnern gesellschaftliche Spannungen überbrücken?

Als Fred Chin 1983 aus dem Gefängnis entlassen wird, will er nichts mehr als nach Malaysia zurückkehren. Doch die Regierung behielt seinen Pass ein, um zu verhindern, dass er im Ausland von dem Unrecht erzählen kann, das er erlebt hat. Heute ist er 73 Jahre alt und erzählt immer noch. Er führt als Zeitzeuge durch Jingmei. „Ich empfinde es als meine Verantwortung und meine Pflicht hier zu bleiben und der jüngeren Generation meine Geschichte zu erzählen“.