Bolivien: Stacheldraht für die Volkszählung

Auch am 35. Tag des Paros, des selbst verordneten Stillstands, bewegt sich noch immer sehr viel im bolivianischen Santa Cruz. Ende Oktober 2022 entschloss man sich zu diesem drastischen Schritt und geht seitdem kaum einen Kompromiss ein. Kaum aus dem Flughafen – denn eine andere Verbindung zur Außenwelt gibt es gerade nicht – gerät man in die erste provisorische Straßensperre und darf über einen Feldweg ausweichen. Zumindest, wenn man einen Boliviano entrichtet, ungefähr 15 Cent. Dann wird das Seil gesenkt oder der Stacheldraht kurz zur Seite genommen. Die Leute wirken routiniert. Heute ist immerhin weder der erste Tag, noch der erste paro den die Leute mitmachen. Diese Art des Protests hat eine gewisse Tradition.

Es ist ein Slalom, Hauptstraßen oder Autobahn sind unpassierbar. Große Erdhügel blockieren den Weg und das Weiterkommen. Keine Chance da durchzukommen, sogar Krankenwagen müssen sich den Durchgang immer wieder aufs Neue erkämpfen. Viele lassen das Auto in Santa Cruz sowieso zu Hause stehen und fahren stattdessen mit dem Fahrrad. Damit ist man inzwischen schneller und flexibler.

Wer von der Kette nicht aufgehalten wird, den stoppt der Stacheldraht.
Andere Blockaden sind permanenter.

Der Grund für das ganze Chaos und warum das ganze Land mit einer Mischung aus Patriotismus und Wut auf den Bundesstaat zielt, lässt sich zunächst auf ein Wort reduzieren: Zensus. Die Volkszählung ist das, was sich die Cruzeños – wie sich die Bevölkerung hier nennt – wünschen. Fragt man nach den Gründen, folgt bei den meisten erst einmal ein kurzer Seufzer.

Es klingt geübt, sie haben die Diskussion schon häufig mit Freund:innen und Familie geführt. „Seit 2002 wurde der Zensus nicht mehr durchgeführt. Angeblich hat Santa Cruz 2 Millionen Einwohner:innen. Es müssten aber eigentlich wesentlich mehr sein“, sagt der Mann, der die Straßensperre am 7. Ring der Stadt leitet. Er stellt sich als Harry vor. Fotos könne man machen, aber Gesichter sollen nicht erkennbar sein. Ihm und seinen Mitstreiter:innen geht es vor allem darum, endlich ausreichend Vertretung im Parlament zu haben. Und: Es sollen endlich entsprechende Mittel in die Region fließen.

Die Forderung der Protestierenden lässt in einem ein Wort zusammenfassen: Zensus. Wenn nötig, wollen sie auch Weihnachten hier verbringen.

Provisorisch haben sie schon einmal einen Weihnachtsbaum aufgestellt. „Wenn nötig ziehen wir den Protest bis Weihnachten durch!“, sagt Harry und wirkt sehr davon überzeugt, dass der Rest von Santa Cruz dabei auch mitmacht. Fragt man Passant:innen bekommt man eher den Eindruck, dass viele eigentlich die Nase voll haben und nur ihren Alltag wiederhaben wollen. Nach mehr als einem Monat sind liegen die Nerven blank. Sie wollen ohne große Umwege zum Einkaufen, Schwimmen oder Feiern gelangen können.

Am Morgen des 36. Tags des Stillstands kommt endlich die rettende Nachricht: Die Abgeordneten des Parlaments haben sich geeinigt. Im März 2024 soll die Volkszählung nun stattfinden. Jetzt fehle nur noch der Senat, doch die Zustimmung gilt als sicher. Was sich jedoch abzeichnet: Es gibt einen Riss in der Partei. Die Fraktion von Ex-Präsident und Chef der Regierungspartei MAS, Evo Morales, war gegen den Gesetzesvorschlag. Der amtierende Regierungschef – und ebenfalls Mitglied der MAS – dafür. Viele spekulieren auch, dass es bei dem paro eigentlich um einen Machtkampf gehen soll. Die Zensus-Frage ist für sie nur vorgeschoben.

Bereits kurz nachdem der paro offiziell aufgehoben wurde, fangen die Menschen an, die Stacheldrähte einzusammeln. Ein Junger Mann möchte sein Fahrrad wieder los werden. Es soll langsam wieder Normalität einkehren – bis zum nächsten Stillstand.