Bangkok: „Straßenkinder gibt es nicht“

Ein Gefühl von Ruhe und Sicherheit durchströmt mich, als ich das Törchen öffne und den Innenhof des Tageszentrums der Foundation for Slum Child Care betrete. Ich stehe barfuß auf grünem Kunstrasenteppich, vor mir ein überdachter Essensbereich mit sechs kindgerecht kleinen Tischen und jeweils vier Stühlchen. Dahinter erstreckt sich ein weitläufiger Spielbereich mit quietschbuntem Klettergerüst, Rutsche und unzähligem Plastik-Spielzeug. Die Ruhe endet mit dem Aufwachen der Kinder aus dem Mittagsschlaf. Nach und nach kommen die Drei- bis Fünfjährigen die Treppe runter getapst. Während „die Großen“ Mittagessen, gehen wir zu den Kleinen rauf. Als Muntermacher wird musiziert und gesungen – eine Strophe für jedes Kind. Mein Schoß wird direkt von Win (Name geändert) in Beschlag genommen. Mama und Papa von Win sind beide im Gefängnis, jetzt lebt er bei seiner Oma in Khlong Toei. Khlong Toei ist das Zuhause fast aller Kinder im Zentrum. Es ist der größte Slum Bangkoks und einer der größten des Landes. Unter den 100.000 Bewohner*innen sind auch viele Kinder, deren Eltern die Fürsorge nicht allein übernehmen können – sei es, weil sie Geld verdienen müssen, Alkohol- oder Drogenprobleme oder andere Sorgen haben. Oder weil es gar keine Eltern mehr gibt, so wie bei Win. Er ist täglich hier – er kommt, wenn das Zentrum öffnet und geht, wenn es schließt. Über Nacht können die Kinder nicht bleiben. Das mit den Übernachtungsmöglichkeiten für Kinder ist insgesamt eine schwierige Sache in Bangkok

.

Über Nacht können Kinder ausschließlich im Hub Saidek bleiben. Es ist nach eigenen Angaben das einzige 24-Stunden-Zentrum für Straßenkinder. Und nach aktueller Gesetzeslage darf es die Fürsorge auch nur für Kinder ab zwölf Jahren übernehmen. Das Zentrum ist privat und ausschließlich über Spenden organisiert, so wie alle Projekte dieser Art. Was die Regierung tue, um Straßenkindern zu helfen und das Problem zu lösen, frage ich Yan, die Sozialarbeiterin des Hubs (Name geändert). Für die Regierung gibt es keine Straßenkinder. Bitterkeit schwingt in ihrer Stimme mit. Der Unwillen und die Ignoranz von Oben machen es schwierig, die Kreisläufe zu durchbrechen und langfristig etwas zu ändern.

Während ich den Kindern dabei zuschaue, kleine Perlen zu Schmuck zu verarbeiten, die sie am Wochenende auf dem Markt verkaufen und den Erlös selbst behalten dürfen, kommt eine junge Mutter ins Hub – mit ihrem Neugeborenen. Es ist nicht ihr erstes Kind. Sie sei selbst als junges Mädchen her gekommen, erklärt sie, daher bringe auch sie jetzt ihre Kleinen her. Das Hub sei ihr Zuhause und seine Menschen die bessere Familie.

Manchmal ist es schwer, die Erfolge zu sehen, räumt Yan ein. Aber auch jedes einzelne Kind, dem geholfen werden kann, zähle, sei es durch eine Dusche, eine Mahlzeit oder eine Übernachtungsmöglichkeit fernab von Straße oder Slum.

Was das schlimmste Schicksal war, das sie hier begleitet haben, frage ich.

Es war ein kleiner Junge, gerade einmal sechs Monate als. Ermordet vom Stiefvater. Der Mann war alleine mit dem Kind. Der Job lief nicht gut, er hatte getrunken und der Junge hörte nicht auf zu weinen. Da nahm der Mann das Kissen und brachte es zum Schweigen.

Das Bild des Jungen steht seitdem golden eingerahmt im Büro, im ersten Stock des Gebäudes. Sie machen sich noch immer Vorwürfe, fragen sich, was sie hätten tun können. Sie wussten von den Alkoholproblemen und der häuslichen Aggression. Aber die Mutter ließ sich nicht helfen, wollte die Beziehung nicht beenden und das Kind behalten. Regierung und Gesetze haben sie alleine gelassen. Ein Satz, den ich noch oft hören werde.

Danach haben sie vor Gericht gegen den Mann ausgesagt. Es war nicht der erste und wird nicht der letzte Fall sein, den sie vor Gericht bezeugen müssen. Sie haben dann Angst, denn sie riskieren viel. Bei ihrer Aussage zeigen sie ihr Gesicht und die Männer kennen sie, wissen wo sie arbeiten. Schutz erhalten sie keinen. Wie sie es schaffen ihren Job weiter zu machen und die Hoffnung zu behalten? Sonst macht es ja keiner. Irgendwer muss da sein für diese Kinder.

Zwei Wochen zuvor: Als ich in Thailand ankomme erwarte ich das für mich von früheren Reisen nach Subsahara-Afrika gewohnte Bild von unzähligen Kindern auf den Straßen, die Essen und Getränke verkaufen, kleine Dienstleistungen anbieten oder einfach um Geld fragen. Doch zunächst einmal Fehlanzeige. Meine ersten Tage nutze ich daher um die Stadt zu erkunden, hauptsächlich zu Fuß. Bangkok ist ganz anders als ich es mir vorgestellt habe. Es ist laut, hektisch, hochmodern und touristisch aber auch bunt und wunderschön. Es ist ein Sinnbild für die Prosperität und den Wachstum Thailands aber auch seiner Schattenseiten – wie der stark ausgeprägten Ungleichheit, die vor allem Kinder in besonderem Maße trifft. Ich spaziere durch perfekte Parks, ein Meer aus grünen Palmen und Blumen, die in allen Tönen leuchten, besuche märchenhaft glitzernde Paläste und Tempel. Und passiere dabei entlang der großen Verbindungsstraßen des Zentrums hunderte wohnungs- und obdachlose Menschen, Erwachsene und Kinder, Frauen und Babys, an denen das Pulsieren der Stadt nur so vorbei zieht. Es ist ein skurriles Bild in der sonst so gepflegten und aufgeräumten Stadt.

Darüber hinaus sind die ersten Tage geprägt von Gesprächsversuchen bei NGOs, Kinderheimen und diversen Schutzzentren. Die meisten schriftlichen Anfragen bleiben unbeantwortet, am Telefon äußert man Sorge, wohl des Schutzes und der Privatsphäre der Kinder wegen. Ich passe meine Strategie an und gehe zu direkten Besuchen über: wie sich zeigte, ein erfolgreicher Wechsel.

Jetzt neigt sich meine Zeit in der Hauptstadt schon wieder dem Ende zu. Morgen geht es weiter nach Pattaya. Bei einem Schlummertrunk auf der Terrasse meines Homestays fragt mich Franco aus Italien entgeistert, was ich denn dort will. Franco, ein Mann mittleren Alters, ist jetzt das 14. Mal in Thailand. Pattaya war einer der wenigen Orte, die er scheußlich fand – um es mit seinen Worten zu sagen „wuaaah!“, wobei er vor Abscheu fast ein bisschen ausspuckt. Er habe dort Sachen gesehen, die wolle ich mir lieber nicht vorstellen. Junge Mädchen, vielleicht 12, 13, 14 Jahre alt, mit Männern um die 80.