„Deutsche interessieren sich für Armenien?”, fragt Anahit irritiert, als ich ihr erzähle, dass ich für einige Wochen ihr Land kennen lernen will. Ich sei kein Einzelfall, versichere ich ihr.
Wir befinden uns im Landeanflug auf Jerewan, es ist halb fünf Uhr morgens, in der Dunkelheit erkenne ich Umrisse des Ararat-Gebirges. Nach alttestamentarischer Überlieferung ist der Große Ararat der Berg, den Noah nach der Sintflut erreichte. Er befindet sich auf türkischem Staatsgebiet. In Anahits Blick meine ich die geerbte Traurigkeit zu lesen, als sie sagt: „Es ist eigentlich unser Berg”. Wahrscheinlich mischen sich Müdigkeit und Trauer.
Wir landen. Draußen wird sofort jeder Atemzug in der Kälte sichtbar. Die Luft ist staubig, neue Gerüche signalisieren dem Körper eine noch fremde Umgebung. Auf dem Weg vom Flughafen ins Stadtzentrum von Jerewan strahlt eine beleuchtete Kirche einen so sauberen weißen Fleck in die Nacht, dass alles herum gelblich verbleicht. Das Frühstück verschlafe ich, die drei Stunden Zeitverschiebung machen sich bemerkbar.
Ararat, Azerbaijan und der Albtraum von 1915-1923; damit hören viele Geschichten über Armenien auf. In den kommenden Wochen mache ich mich auf die Suche nach den Zwischentönen und leiseren Stimmen.
Kaleidoskop der ersten Tage
Im Stadtzentrum sind die Straßen nur an gelben Zebrastreifen zu überqueren, wer sich nicht daranhält, riskiert hohe Geldstrafen zahlen zu müssen. Sogar Straßenhunde warten brav an Ampeln, bis es grün wird. Gleichzeitig findet man in vielen Autos keine Sitzgurte. Die Häuser sind aus rosa oder zartbitter-farbendem Tuff-Lavagestein gebaut. Laut Vako, einem armenischen Künstler und Stadtführer, scheint an 312 Tagen im Jahr die Sonne, im Winter wird es bis zu minus 12 Grad, im Sommer bis zu plus vierzig Grad.
In Jerewan vermischt sich sowjetische Formensprache mit mediterranem Straßengewusel, baufällige Armut mit Hipstercafés digitaler Nomaden, das arme Leben mit einem laissez faire, zu dem Deutsche wohl niemals fähig sein werden, chauvinistisches Gebaren mit gebieterischen weiblichen Stimmen.
Alexander Tamanian ist der prägende Architekt Jerewans, der neoklassizistische Stil der Stadt ist sogar nach ihm benannt. Im 20. Jahrhundert verschwanden die meisten nahöstlichen und persischen Elemente aus der Stadt, wie beispielsweise der Bazar und Holzfassaden in Hinterhöfen. Stattdessen sollte aus dem zur neuen Hauptstadt erkorenen Jerewan eine Gartenstadt wie Paris werden. Dazu veränderten die sowjetisierenden großen Maße die Stadt, es entstanden breite Straßen und Statuen wie Mutter Armenien lassen bis heute Menschen auf Ameisengröße schrumpfen.
Vako erklärt, was es mit dem Ton in Armenien auf sich hat. Man sei geprägt von den sowjetischen Umgangsformen: selten ein Bitte oder Danke, geradeaus sagen, was man möchte, irritierter Blick, wenn Menschen freundlich lächelnd nach etwas Fragen (was will die von mir?). Gleichzeitig seien Armenier sehr herzlich, berichtet Vako. Sie meinen ihre Gastfreundschaft ernst und es sei kein ausuferndes Geplänkel wie im Mittleren Osten.
Raum und Zeit
Zeit funktioniert anders in Armenien. Aus veranschlagten fünf Stunden werden drei, aus einer Verabredung um 12:30 wird, ohne ein Wort darüber zu verlieren, 13:00 Uhr, aus fünf Minuten werden zwei Stunden.
Raum funktioniert anders in Armenien. Das Land ist in etwa so groß wie das Bundesland Brandenburg, etwa drei Millionen Menschen leben hier. Die meisten Armenierinnen und Armenier leben außerhalb des Landes, die armenische Diaspora wird – je nach Gesprächspartner – auf acht bis zehn Millionen Menschen weltweit geschätzt. Zu den bekanntesten Personen gehören die Kardashians, Cher, Charles Aznavour und Hrant Dink. Ähnlich wie in Israel gibt es ein dauerhaftes Rückkehrrecht und ein Programm, Repatriat Armenia, um armenischstämmige Menschen nach Armenien zu bewegen.
Raum funktioniert auch anders im Kleinen, Schlange stehen wird großzügig ausgelegt und Busse sind dann voll, wenn niemand mehr umfällt beim Bremsen, die Strecken im Land sind schnell abgelaufen und abgefahren. Das war nicht immer so, doch dazu in den kommenden Wochen mehr.
Leckerbissen zum Schluss
Auch für eine Fast-Veganerin hält die armenische Küche leckere Gerichte bereit: Zhingyalov Hats (Lavash-Brot gefüllt mit frischen Kräutern), Pelmeni gefüllt mit Bohnen, gebackener Kürbis mit Nüssen. Und die Süße und Saftigkeit armenischer Aprikosen übertrifft alles, was ich bisher probiert habe.