Russische Alternativszene in Armenien

Russ:innen, die gegen den Krieg sind oder vor der Einberufung zum Militär fliehen, werden hart bestraft. Armenien gehört zu den wenigen Ländern, in das Russ:innen noch ohne Komplikationen einreisen können. Seit einem Jahr sind um die 300.000 von ihnen hierher gezogen, die meisten in die Hauptstadt Jerewan. Viele warten auf das Kriegsende, um zurück zu gehen, manche sehen in Armenien ihr neues Zuhause. Sie nutzen das Exil, um eine freieres Leben zu führen. Dadurch entfaltet sich in Jerewan eine junge russische Alternativszene.

Hier arbeiten Journalisten an Online-Formaten, die über den Krieg aufklären, es finden Veranstaltungen statt wie ein Anti-Kriegs-Posterwettbewerb und psychologische Beratung, es gibt queeren Safespace, laute Clubs, Restaurants mit großmütterlichem Borsch, eine vegane Imbissbude im Hinterhof, Theater über Flucht, Ausstellungen, Konzerte, mehrere Solidaritätsflohmärkte für ukrainische Geflüchtete. 

Unter Russ:innen am 24.2.2023

Den 24.2.2023, der traurige Jahrestag, an welchem Russland den seit 2014 andauernden Krieg gegen die Ukraine militärisch eskalierte, verbringe ich in Jerewan unter Russ:innen.

Viele – bei weitem nicht alle – sind gegen den Krieg und kreieren an diesem Tag Friedensorte. Die habe ich den Tag über besucht. Es ist ein sonniger Tag in Jerewan, das passt eigentlich nicht so richtig. Vor der russischen Botschaft regt sich noch kein Protest, es soll erst später losgehen, erfahre ich.

Mittagessen: Statt dem üblichen hämmernden Rock, wird in dem von Exilrussen geführten Laden leise Klaviermusik gespielt. Es ist ruhig. Auf dem Tresen steht ein Abreisskalender, der für den heutigen Tag schwarze Gewitterwolken anzeigt.

Die Tür geht auf, zwei Ukrainer treten ein, sie möchten ein Poster für eine bald anstehende Friedens-Auktion aufhängen. „Natürlich“, sagt die Kellnerin, und klebt die Poster an die Wand.

Nach dem Mittagessen ziehe ich weiter, in ein Café, dass eher einem Gemeindezentrum gleicht. Hier gibt es Kaffee, eine Bar, eine Bühne, Proberäume, Karaoke, Konferenzräume und eine Küche. Heute kann man sich hier tätowieren lassen (Anti-Kriegstattoos), handgemachten Schmuck nach Charkiw-Art kaufen, es gibt selbstgetöpferte Tassen und Teller, psychologische Beratung, eine Filmvorführung, Karaoke und später lauten Auf-die-Fresse-Rock. Die Orte der Exilrussen erfüllen selten nur eine Funktion, die meisten sind fluide Gemeinschaftsorte, die von dem Leben, was die Menschen gerade mitbringen und brauchen. Ob sich hier eine russische Vision für eine Zeit ohne Putin entwickeln kann, oder ob es hier vielen vor allem um das eigene Wohl geht, kann ich noch nicht sagen.

„Wir sind so müde vom Krieg“, sagt eine Ukrainerin, die gemeinsam mit Russ:innen versucht feministische Friedensorte zu schaffen. Es sind nicht viele Ukrainer:innen nach Armenien gekommen. Das liegt auch an der starken Orientierung des Landes zu Russland. Es sind einige Urkainer:innen gekommen, für die es günstiger war in Armenien zu leben als in Europa. Zudem sprechen die meisten Armener:innen Russisch, das „Englisch der ehemaligen Sowjetstaaten“, was die Verständigung einfach macht. Einige Armenier:innen nehmen es der Ukraine übel, dass diese sich im armenisch-aserbeidschanischen Krieg nicht auf die armenische Seite gestellt haben. Sie hätten ihren eigenen Krieg und interessierten sich deshalb nun weniger für die Ukraine.

Russ:innen demonstrieren gegen den Krieg

Inzwischen ist es draußen dunkel geworden, die Demonstration beginnt. Sie ist einige hundert Meter entfernt von der russischen Botschaft und später find eich auch heraus, warum. Die Menschen stehen im Kreis umeinander, einige halten Poster hoch. Die Stimmung ist vorsichtig, man bleibt dicht zusammengedrängt, zwischendurch werden Rufe laut wie „Nein zum Krieg“, ein Chorus entsteht nur kurz. Um uns herum stehen armenische Polizisten mit Fellmützen, die Straße hoch warten Hundertschaften in Bussen, falls etwas passiert. Nach einiger Zeit gehe ich weiter, und dann verstehe ich auch, weshalb die Russ:innen nicht vor ihrer Botschaft protestieren.

Armener:innen laufen mit Fackeln in der Hand auf die Botschaft zu. Auch sie chanten „Nein zum Krieg“ und Kritik an ihrer eigenen Regierung wird laut. Sie sind geordnet, der Chorus sitzt, allerdings sind fast mehr Polizisten vor Ort als Demonstrierende. Eine Aktivistin übernimmt das Mikrofon, als der Fackelzug vor der Botschaft anhält. Sie will, dass der russische Einfluss aus Armenien verschwindet, sie bittet die USA und Frankreich sich mit der armenischen Zivilgesellschaft zu unterhalten und nicht mit der „korrupten Puppen-Regierung“. Auf die Frage, weshalb die Russ:innen und Armenier:innen nicht zusammen demonstrieren antwortet mir ein anderer Zuschauer, dass es wohl offizielle Vorgaben sein müssen.

Demonstrierende vor der russischen Botschaft in Jerewan

Später besuche ich noch ein Konzert, bei dem russische, armenische und ukrainische Lieder gesungen, Gedichte und persönliche Geschichten von Geflüchteten vorgetragen werden. Es ist aber längst nicht alles gut. Die Angst, vor dem was noch kommt, ist immer da. Und nicht alle Armenier:innen sind begeistert, von dem Zuzug.

Armenische Herausforderungen seit dem Zuzug

400 Euro mehr Miete, oder sie müssen nächsten Monat ausziehen. So und so ähnlich klingen die Geschichten vieler Jerewanis. Eine Frau im Café neben mir weiß nicht, wo sie ab nächster Woche wohnen soll, eine Kollegin zieht mit ihrer Familie in eine kleinere Wohnung für mehr Miete , mein Plan, ein WG-Zimmer zu finden, scheitert. Wer zur Miete wohnt, hat keine Rechtssicherheit. Es gibt keinen Mieterschutz.

Hinterhof in Jerewan

Dass Wohnen so teuer geworden ist, liegt einerseits an dem niedrigen Kurs des armenischen Dram. Es liegt aber auch an der hohen Nachfrage. Die entsteht seit einem Jahr besonders durch die auf unbestimmte Zeit hergezogenen Russ:innen. Das ist einer der Gründe, weshalb nicht alle Armenier:innen begeistert sind von dem Zuzug. Gleichzeitig profitiert Armenien von dem Kapitalfluss, den vollen Cafés, Hotels und den vergleichsweise hohen Preisen, welche von Russ:innen für Wohnungen verlangt werden können. Und die Russ:innen bringen mehr Diversität in das Stadtbild Jerewans, sie bringen queere Normbrüche, Nasenpericings, bunte Haare. „Armenier:innen erkannte man lange daran, dass sie nur schwarz tragen. Das ändert sich“, berichtet ein armenischer Künstler.

Andere russische Stimmen

Nicht alle Russ:innen bleiben in Jerewan, es gibt auch viele die nur zum Urlaub herkommen. Urlaub von der Stimmung zuhause.

„Wer kann, der geht.“ Masha* kann nicht aus Russland weggehen. Sie hat eine alte Mutter, die nicht mehr beweglich ist, sie hat einen Sohn, der vom Militär eingezogen werden kann. Masha hat für eine europäische Firma gearbeitet, mit den Sanktionen ging die Firma, Masha verlor ihren Job. Jetzt kümmert sie sich um ihre Familie, sie streichelt beim Erzählen liebevoll den Arm ihres Mannes. 

Masha tut alles, dass ihr Sohn nicht an die Front, in den „Fleischwolf“ gehen muss. Sie wäre gegen den Krieg protestieren gegangen. Ihre Mutter flehte sie an, zuhause zu bleiben. Es sei zu gefährlich, denn die Gewaltbereitschaft der Sicherheitskräfte sei hoch, Masha könne sich hohe Geldstrafen einfangen, die die Familie ruinieren würde, oder der Sohn könne plötzlich eingezogen werden. Also bleibt Masha zuhause. 

Ihren Protest zeigt sie mit der Weigerung, den Krieg zu unterstützen. Am Anfang spricht sie nur von der „Situation“, später von Krieg. Ihnen ist es verboten, von Krieg zu sprechen. „Viele Menschen in Russland sind gegen den Krieg. Aber es gibt auch diejenigen, die nicht richtig aufgeklärt sind, die viel Geld dafür bekommen, dass sie ihre Söhne und Männer an die Front schicken.“ 

Mashas Hoffnung liegt auf den Journalist:innen und Künstler:innen im Exil. Sie wünscht sich, dass die Aufklärungsarbeit der Exilierten über YouTube auch die Menschen erreiche, die in den eher abgeschiedenen Orten leben. Masha will Frieden: „ Wir sind normale Menschen, wir hatten ein normales Leben mit Wünschen, Sorgen und Zielen. Das ist vorbei. Wer weiß denn, wie es weitergeht?“

Am nächsten morgen nach der Demonstration ist das Butterfest „Maslenitsa“. Das eigentlich heidnische, aber inzwischen vor allem russisch-orthodoxe Pfannkuchenfest markiert das Ende des Winters. Um die Deutung der eigenen russischen Kultur nicht dem Regime zu überlassen, werden diese kleinen Feste selbst gedeutet und zelebriert.

Vegane Blini am Butterfest